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Plötzlich ist sie da, die „Flut“ der Schutzflehenden
Foto: Thomas Aurin

Der Schutzwall ist leider löchrig

30. April 2015

Peter Carp inszeniert in Oberhausen Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ – Auftritt 05/15

Der Eiserne Vorhang in Oberhausen, diese stählerne Feuerschutzmauer öffnet sich und Nebel (nichts geht im Theater heute mehr ohne modernes „Trockeneis“) verteilt sich im dunklen Zuschauerraum. Die Bühne ist eine Wand, an die Mittelmeerwellen branden, ein Suchscheinwerfer tastet den Strand ab, dann zwei, die Festung Europa ist wohlbehütet, im Soundteppich höre ich die grauenhaften Laute eines untergehenden Schiffes. Oder ist das schon Einbildung? Ich denke nicht. Peter Carp inszeniert Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ mit starken Bildern gleich zu Beginn. Minutenlang ist nur das Stöhnen der Elemente zu hören. Wer wollte allen Ernstes freiwillig da durch und wozu? „Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben.“ Das Statement der Schutzsuchenden vergeht, Stille. Schwarze Nacht.

Die Mauern werden verschoben, geben den Blick frei auf die, die immer im Hellen sitzen, Tee trinken und sich ganz der Betroffenheit hingeben wollen. Ihr „Leben“ ist mehr wert als das Flehen derer, die das Sinken des Seelenverkäufers wohl überlebt haben, und sie wissen es zu schützen, denn die, die da an die Strände schwemmen, bedrohen ihre heimelige Welt, die schicke Leere, die fein ziselierte Tapete, den Kronleuchter, ach ja, die Plätzchen sowieso. Bis dahin ist an der Inszenierung nichts auszusetzen, Carp hat zwar den eigentlichen Jelinek-Monolog ins dialogische verlegt und vier Figuren quasi als lebende Lautsprecher dazu erfunden, aber das funktioniert tadellos, wenn man statt „wir“ einfach immer „die“ sagt, und zu sagen haben diese Protagonisten der feinen Gesellschaft eh nichts, ratlos und depressiv sind sie angesichts der Flut hinter ihren hohen Mauern.

Sprache und Hirn sind getrennt, auch bei denen, die Mitleid heucheln. Und so wird der schicke riesige Kronleuchter auch schon mal zum Schmiedehammer, als wolle er die Fremden in den Boden rammen, diese unbekannte kritische Masse, die da das Fass Europa zum überlaufen bringen will. Eigentlich denken alle vier: Warum bleiben die nicht einfach weg? Oder sterben einfach weit, weit entfernt, wie die Hunderte jüngst im Mittelmeer, deren Schicksal nun Politiker und Medien bewegt, und dann – seien wir ehrlich – sobald eine bestimmte britische Prinzessin Nachwuchs kriegt, niemand mehr interessiert. Diese Gleichgültigkeit zeigt Carp über weite Strecken still und gekonnt fürs Theater. Es fragt sich nur warum, denn so ein richtiger Knaller ist dieser Text der Jelinek nach Aischylos „Die Schutzflehenden“ nicht, der als intellektueller Reflex auf eine Kirchenbesetzung in Wien entstand. Da kloppt die österreichische Literaturnobelpreisträgerin genüsslich auf die reichen „Flüchtlinge“ hin, die weder eine Aufenthaltsgenehmigung brauchen und unkomplizierte Niederlassungsfreiheit genießen. Boris Jelzins Tochter Tatjana Jumaschewa und die Operndiva Anna Jurjewna Netrebko sind der Gegenentwurf zur europäischen Flüchtlingspolitik. Beide Russinnen wurden blitzartig österreichische Staatsbürger, quasi über Nacht. Geld und Stimme, da flöten unsere Teetrinker fröhlich, aber weiterbringen kann dieser böse Vergleich niemanden.

Bedenklich wird es, wenn Carp in Oberhausen den Chor aus zehn Flüchtlingen antreten lässt, schüchterne Jungs vom Hans-Sachs-Berufskolleg im Einheitslook eines grauen Kapuzenpullis, die zwischen den schicken Zellen der Begüterten in klassischen Kostümen hervortreten. Zugegeben, diese Visualisierung von Einzelschicksalen mag in der Inszenierung als Gegenentwurf zur unbekannten Flut diskutierbar sein, es bleibt dennoch die Frage, ob hier nicht eine Grenze der Teilhabe am Schicksal dieser Flüchtlinge überschritten wird, selbst wenn einige am Ende ihre Geschichte erzählen dürfen. Unsere vier Teetrinker jedenfalls nehmen „die da“ erst einmal gar nicht zur Kenntnis, wo sollen sie auch hin: Tee und Plätzchen sind längst weggefuttert und Platz? Ne, Platz gibt es eigentlich auch nicht, aber immerhin eine Vorlesung über europäisches Asylrecht, du nicht verstehen? Nein, kaum einer dieser jungen Männer versteht Deutsch. Das ist rührend, aber keine Lösung, und so kommt es wie es kommen muss: Beim Nachgespräch war sie wieder da, diese verdammte designte Betroffenheit.

„Die Schutzbefohlenen“ | So 14.6. 18 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84

PETER ORTMANN

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