Gesteinsbrocken, kaputte TV-Apparate, zerstörte Stühle oder Kinderpuppen: Apokalyptische Symbole signalisieren in Christoph Mehlers Inszenierung von Finegan Kruckemeyers „Der lange Schlaf“ am Theater Oberhausen die Folgen der Klimazerstörung. Franziska Roths Figur Maggie tritt im Sommerkleid und Gasmaske gleich zu Beginn aus dem Bühnennebel dieser Endzeitkulisse. Wir schreiben das Jahr 2030. Und Roths Zukunftsinsassin blickt zurück auf eine Zeit, in der die Menschen die ersten Ressourcenkriege nicht wahrhaben wollten. Jetzt sind die Nahrungsmittel knapp, die Länder überflutet und Klimageflüchtete suchen Zuflucht. Politik und Wissenschaft ringen darum, welche Maßnahmen den finalen Gau abwenden. Vielleicht eine Evakuierung zu einem anderen Planeten? Nein, die junge Forscherin Emily (Simin Soraya) unterbreitet dem Minister für Raumfahrt (Klaus Zwick) einen anderen Plan: Der Menschheit solle das Betäubungsgas „E54 510E“ verabreicht werden. Sodann könne ein einjähriger, kollektiver Winterschlaf dem Planeten eine Verschnaufpause gewähren.
Zwar birgt die globale Zwangsmaßnahme ein paar kleine Details, die zu klären wären: von der Frage, ob alle Staaten an einem Strang ziehen bis hin zur Versorgung der Kranken. Aber der Minister fädelt den globalen Powernap für den Planeten schnell ein. Zwick spielt diesen Staatsmann als getriebene Establishment-Quarktasche, die sich einen lauten rhetorischen Schlagabtausch gibt mit Oliver E-Fayoumi als oppositionellem Gegenspieler. Stefano die Buduo (Bühne und Video) filmt diesen Streit aus einer Over-Shoulder-Perspektive. Dieser Kniff ist genauso ein Hingucker wie der LED-Schriftticker am Bühnenrand, der den Countdown bis zum Start dieses Notfall-Nickerchens herunter zählt, genauso wie ein Baum, der kurz darauf von der Decke herunterfährt – als Hinweis auf die Rückkehr von Flora und Fauna.
Der irisch-australische Dramatiker Finegan Kruckemeyer wagte mit seinem Stück ein Science-Fiction-Gedankenexperiment. Doch sein Stoff verliert sich in Nebenhandlungssträngen wie etwa diesem: Maggie und Pete, ein Familienvater, konnten beide nicht anästhetisiert werden, weil man ihnen vor Jahren künstliche Lungen transplantierte. Beide mäandern einsam durch die dauerschnarchende Welt – bis sie aufeinandertreffen und sich verlieben. Damit gerät das Sujet der Klimakrise im Laufe des Abends zunehmend zum Alibi eines bewährten dramaturgischen Repertoires. Zumindest in Kruckemeyers Stück – denn das Regie- und Bühnenteam machen das noch Möglichbeste aus dieser Vorlage.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Multiple Zukünfte, sinnlos zerstört
„Die Brücke von Mostar“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/23
Antworten, die verschwiegen werden
„And now Hanau“ in einem Oberhausener Ratssaal – Prolog 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Pennen für den Planeten
„Der lange Schlaf“ in Oberhausen – Prolog 05/23
Disco und Diskurs
Festival am Theater in Oberhausen – Prolog 04/23
Im Tanzschritt mit der verlorenen Zeit
Probenbesuch von „Faster“ am Theater Oberhausen – Bühne 03/23
Wenn einem die Natur kommt
„Woyzeck“ am Theater Oberhausen – Auftritt 01/23
Tonight's the Night
Musikalische Silvester an den Theatern im Ruhrgebiet – Prolog 12/22
„Geld ist genau das Problem in diesem Bereich“
Maike Bouschen über „Zwei Herren von Real Madrid“ am Theater Oberhausen – Premiere 12/22
„Was ist das eigentlich, was wir Humanismus nennen?“
Kathrin Mädler bringt „Kissyface“ erstmalig auf die Bühne – Premiere 10/22
Die Schandmaske eines Brauchtums
„Karneval“ am Theater Oberhausen – Auftritt 03/22
Das Phantom in der ehemaligen Oberhausener Oper
Florian Fiedler inszeniert „Kohlenstaub und Bühnennebel“ – Auftritt 01/22
Schwofende Schwellenfigur
„Don Q“ am Musiktheater im Revier – Tanz an der Ruhr 10/23
Vernetzung und Austausch
Kultur Digital Kongress auf PACT Zollverein – Gesellschaft 10/23
Die Gretchengeschlechterfrage
„Doktormutter Faust“ am Grillo-Theater Essen – Bühne 10/23
Alptraum ohne Ausweg
Ruhrtriennale: Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ in Bochum – Oper 10/23
Femizid als dramatischer Höhepunkt
„(Making) Woyzeck“ im Grillo Theater Essen – Prolog 10/23
„Bei uns klebt sich keine:r fest“
Dramaturgin Sarah Israel über das Krefelder Tanzfestival Move! – Premiere 10/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Täglich 0,5 Promille
„Rausch“ am Schauspiel Essen – Prolog 09/23
Gebremster Senkrechtstart
Erste Premiere am Aalto-Theater Essen: Giuseppe Verdis „Macbeth“ – Oper 09/23
Nunca más
„Memoria viva“ im Fritz Bauer Forum in Bochum – Bühne 09/23