Man wagt kaum, unter der Maske zu atmen, wenn Damian Rebgetz in seiner fein designten Robe über die leere Bühne nach vorne kommt und mit der Geschichte einer unerfüllten Liebe beginnt. Sie begann, als er, Dante Alighieri, neun Jahre alt war und die gleichaltrige Beatrice entdeckte. Sie fraß sein Herz, er schrieb ein Sonett, das automatische Klavier spielt dazu. Das ist leicht gesagt und schnell geschrieben, aber so einfach macht der Regisseur sich das natürlich nicht. Wegen dem überaus präsent-prägnanten Australier tauchen schon zu Beginn der Vorstellung aus dem grauen Nichts blumige Visionen dieser fast heilig anmutenden Beatrice auf und verästeln sich durch ein Leben, das angesichts der Pandemie damals nur 24 Jahre währen durfte – vielleicht ein Grund, warum vieles ungesagt, gar unentdeckt blieb. Und dennoch war die Liebe Ursache eines ganzen Dichterlebens und einer Komödie, die göttlich genannt wird.
Christopher Rüping inszeniert am Bochumer Schauspielhaus „Das neue Leben – Where do we go from here“. Oh ihr, die ihr auf Amors Wegen geht. Mit dem verspeisten Herz ist es allerdings nicht getan. Drei weitere Personen erheben Ansprüche auf die Liebe, sind Manifestationen des Einen, der nicht aussprechen kann, was er fühlt, der sich verzehrt bis in den Tod und darüber hinaus, wenn man dem wohlgesponnenen Ende trauen kann. Die mächtige Magie der vier Schauspieler trägt die Inszenierung, die hochartifiziell ohne „richtiges“ Bühnenbild auskommt, obwohl neben dem offenen automatischen Klavier Dantes Höllenkreise auf den Boden gepinselt sind und eine kirchliche Liedanzeigetafel sowie ein Hängetaster zur Kransteuerung wohl Handlungsmöglichkeiten für die Protagonisten eröffnen. Anna Drexler, Anne Rietmeyer, William Cooper und Damian Rebgetz teilen sich teils spektakulär, teils still und rührend Lover und Angebetete.
Die Bühne bleibt offen, der Zuschauerraum involviert – nur ganz kurz wird eine Besucherin miteinbezogen, dann sind alle der Tod, der von William Cooper angefeindet wird. Sonett: „Ich hasse den Tod“. Rüping spielt mit den Geschlechterrollen und gleichzeitig mit der Metamorphose von Sonetten, während Spinetthaftes in Popsongs von Brittney Spears und Meat Loaf endet. Klar – den hätte Dante gemocht: „I would do anything for love“. Das hätte er ja auch getan, wenn er nur die Zähne auseinanderbekommen hätte. Anna Drexler macht das in einem Solo ziemlich köstlich klar.
Dann ist der Höllenkreis erreicht. Die dramatische Wendung fegt den „grauen Alltag“ beiseite, stürzt die Szenerie ins Schwarz; eine mächtige Laterne am Kran dreht sich nun minutenlang konzentrisch über den Kreisen auf der Bühne, blendet und dröhnt. Das Inferno ist da. Traumatische Bilder mit skurrilen Gestalten wehen unter und neben dem rotierenden Licht in der Dunkelheit. Rüping wird hier sehr künstlerisch bildend – das Visuelle hat etwas von kinetischer Kunst, gepaart mit Hieronymus Bosch. Schließlich ist die Gegenseite erreicht, das Quartett trifft auf die tote und doch alt gewordene Beatrice, die so ganz anders scheint, als Dante sie in den Oden beschrieben hat. Jetzt geht es mit der Grand Dame Viviane De Muynck um das Altern und Sterben und um die Frage nach Ursache und Wirkung der Dichtung. Könnte es sein, dass nur die Unerreichbarkeit der Liebe die Inspiration beflügelte? Beatrice argumentiert schelmisch. Ein intensiver Abend endet spektakulär mit Mega-Spinnennetz-Fallschirm und einer guten Nachricht von Rapper Danger Dan.
Das neue Leben | R: Christopher Rüping | 13.2. 19 Uhr | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
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