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Matthias Brandt und Jens Thomas
Foto: Mathias Bothor

Im Takt der Angst

27. Mai 2016

Matthias Brandt und Jens Thomas in Bochumer Kammerspielen – Literatur 05/16

Im Schauspielhaus Bochum herrscht Angst. Kaum, dass das gleichnamige Stück begonnen hat, ist man schon mitten drin in der schaurigen Atmosphäre von Daphne du Mauriers Kurzgeschichte „Die Vögel“. Dem Großteil des Publikums wahrscheinlich nur aus der gleichnamigen Hitchcock-Verfilmung  bekannt, wird die Geschichte durch Matthias Brandt und Jens Thomas auf komplett neue Art und Weise in Szene gesetzt. Die düstere Lesestimme des bekannten deutschen Schauspielers Brandt und die mitreißende musikalische Untermalung von Thomas, der schon häufig in den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum aufgetreten ist, sorgen am Abend des 25. Mai 90 Minuten lang für einen permanenten emotionalen Ausnahmezustand. Die beiden Künstler führen den Zuschauer durch die Geschichte des Protagonisten Robert, der eigentlich Frieden sucht, doch die Hölle findet.

Trotz Improvisation harmonieren die beiden perfekt miteinander. Das verwundert nicht, denn immerhin hat Jens Thomas schon zu Matthias Brandts Debütroman „Raumpatrouille“ ein passendes Album komponiert. „Angst“ haben sie schon häufig gemeinsam in ganz Deutschland auf die Bühne gebracht. Mit vollem Körpereinsatz hauchen sie den Worten Leben ein, dafür wird sich auch gern mal in das Innere des Flügels gelegt, gegen den Korpus geschlagen oder die Saiten selbst gedrückt, an ihnen gezerrt, das Piano nahezu gequält.

Selbst bei wenig bedrohlichen Textpassagen weckt die im Hintergrund spielende Musik eine düstere Vorahnung. Die von Jens Thomas verursachte Geräuschkulisse drückt den Zuschauer immer wieder vor Schreck in den Sitz. Bald schon fürchtet man den nächsten Schreckmoment. „Jump-Scares“ würde die der geneigte Horror-Cineast wohl dazu sagen. Unverhofft wird in die Tasten gehauen, animalische Geräusche füllen den Saal. Vogelgeschrei, Kratzen auf Holz, Federschlag: all das imitiert der Musiker mit seinem Mund. Gestik und Mimik sind so eindringlich, beinahe spasmenartig, dass das Ganze manchmal beinahe ins Lächerliche abzurutschen droht.

Visuell kann den Zuschauer nichts ablenken, denn das Bühnenbild ist mehr als schlicht. Piano, Buchständer und die ganz in schwarz gekleideten Künstler können nicht mit den auditiven Eindrücken konkurrieren. Für manch einen ist das fast schon zu intensiv. Immer wieder werden schützend Hände auf Ohren gelegt, Blicke ausgetauscht, zusammengezuckt. Verzweifelte Versuche, dem Grauen zu entfliehen.

Von der Lesestimme und der Musik wie betäubt, sucht das Publikum den Theatersaal nach aus der Höhe stürzenden Raubvögeln ab. Brandts und Thomas‘ Inszenierung macht den Zuschauer nahezu paranoid – zu realistisch sind die Klänge, zu eindringlich die gelesenen Worte. Das Publikum kann sich dem nicht entziehen, ist gefangen im Saal wie Robert in seinem von Vögeln attackierten Haus, gefangen in der Angst, die im eigenen Körper tobt. Eigens komponierte, in englischer Sprache verfasste Musikstücke unterbrechen die Handlung und unterstreichen sie zugleich, setzen sie in den Liedern selbst um, greifen wichtige Momente des Textes auf und kleiden sie in ein musikalisches Gewand.

„Es liegt an dem Wetter“, versucht der Protagonist sich die Angriffe der Vögel zu erklären. „Because of the weather“ fliegt der Gesang von Thomas dem Publikum um die Ohren. Bald stimmt auch Brandt ein, ein Duett so vielschichtig wie ein Chor. Es ist nicht das einzige Stilmittel das genutzt wird, um die Geschichte lebendig zu gestalten. Brandt unterbricht die eigentlich im Vordergrund stehende Kurzgeschichte, liest Edgar Allan Poes „Der Rabe“. Es ist das Gedicht, das der Protagonist zuvor innerhalb der Geschichte selbst gelesen hat und das ihn in seinen Träumen verfolgt. Eine Geschichte in der Geschichte. Ob gewollt oder nicht: Brandts langjährige Schauspielerfahrung und sein Talent bleiben nicht verborgen. Schnell mutiert er zum Protagonisten selbst, die Gesichtszüge entgleiten ihm immer wieder vor Entsetzen, Angst und Fassungslosigkeit. Ein Zittern imitierend, rüttelt er am Buchständer, als sich die Handlung ihrem Höhepunkt nähert. Er springt auf, starrt an die Decke, sein Blick fährt suchend durch das Theater, er klopft im Takt eines schnellen Herzschlags gegen den Flügel.  

Bombastisch beendet wird das Stück mit den gesungenen Zeilen „Black Bird take these brocken wings and learn to fly. Fly in the light of the night“. Stille. Dann Brandts letzte Worte: „Sie kommen.“ Das Licht erlischt, das Publikum beginnt zu klatschen – erst verunsichert, dann ungehemmt. Die erstklassige Arbeit von Jens Thomas und Matthias Brandt wird mit Standing Ovations belohnt. Nichts kann die Zuschauer mehr auf ihren Sitzen halten. Am Ende bleibt die Frage: Was war es denn nun eigentlich? Lesung, Konzert, Hörbuch? Es fällt schwer, die Veranstaltung einer Kunstform zuzuordnen. Auch das ist ein Hinweis auf ihre Originalität.

Thomas und Brandt müssen eine Zugabe geben. Es werde die Gemüter beruhigen, verspricht der Musiker. Das Publikum lacht. Nach diesem Abend glaubt in diesem Saal niemand mehr an Entspannung.

 

Dieser Beitrag ist im Zusammenhang mit einem von Dr. Ulrich Schröder am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum im Sommersemester 2016 geleiteten Hauptseminar 'Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus' entstanden.

CAROLIN GNASS und KATHARINA KLEIN

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Ruhrpiranha, 27.05.2016

Gespenstisch nah am Zeitgeist

Tolle atmosphärische Schilderung einer Gänsehaut-Lesung in den Bochumer Kammerspielen! Sicherlich ist es kein Zufall, dass Poe und Hitchcock gerade wieder 'in' zu sein scheinen... Worin aber liegt eigentlich der ästhetische Reiz von 'Endzeit-Stimmung' in vermeintlichen Krisenzeiten? Vielleicht geht es aber ja wirklich nur ums Gruseln (was auch wieder irgendwie gruselig wäre).

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