Die Essener Buchhändlerin Beate Scherzer ist eine routinierte und herzliche Gastgeberin bei Lesungen. Zu großen Namen der Literatur hat sie – ob über die Lesungen in der Buchhandlung Proust selbst oder über die Kooperationen mit z.B. dem Magazin „Schreibheft“ – keine Berührungsängste. Die ganz große Bühne betritt aber auch sie selten. So ist ihr Stolz nahezu spürbar, als sie vor den nahezu restlos ausverkauften Rängen der traditionsreichen „Lichtburg“ einen ganz besonderen Gast ankündigt. Nach den Nobelpreisträgern Herta Müller und Orhan Pamuk ist T. C. Boyle an diesem 7.2. der dritte Autor, dem in Essen großes Kino geboten wird. Die enge und gute Kooperation mit dem Hanser-Verlag in alle drei Fällen hat es möglich gemacht, dass neben Frankfurt, Berlin und München eben nicht die Medienstadt Köln, sondern Essen die Bühne für den einzigen NRW-Auftritt des Star-Autors bietet. So kommt das Ruhrgebietspublikum unmittelbar nach der Weltpremiere in Berlin in den Genuss einer Lesung aus einem Roman, der die Zuhörerinnen und Zuhörer mitnimmt auf einen Trip in die 1960er Jahre und Experimente mit Psychodrogen. Weltpremiere? Ja, die englischsprachige Ausgabe von „Das Licht“ erscheint erst im April. Dass die deutsche Fassung durch Boyles Stammübersetzer Dirk van Gunsteren bereits jetzt in den Buchhandelsregalen steht, ist eine Verbeugung vor den deutschen Lesen, den „best readers of the world“, wie der Autor mit breitem Grinsen schmeichelt. Doch auch seinem deutschen Stammverlag erweist Boyle eine durchaus lukrative Ehre, wie er bereitwillig zugibt: Viele seiner deutschsprachigen Fans kaufen die amerikanische Ausgabe. Dadurch, dass zur Lesereise im deutschsprachigen Raum ausschließlich die Übersetzung vorliegt, kurbelt das auch den Verkauf der Hanser-Ausgabe an.
Vom Zauberer von Oz zu LSD
So offen, wie Boyle diese wirtschaftlichen Überlegungen anspricht, plaudert er auch über eigene – frühere – Drogenerfahrungen, über Timothy Leary und Donald Trump, über Jazz und Rock. Das mag auch an der wunderbar unaufgeregten Interviewführung durch Margarete von Schwarzkopf liegen. Die Literaturkritikerin und Journalistin trifft nicht zum ersten Mal auf Boyle und die beiden harmonieren nicht zuletzt in einem ähnlichen Sinn für Humor – und gemeinsamen irischen Wurzeln – miteinander. Nur sehr sporadisch übersetzt von Schwarzkopf einzelne Statements Boyles, zumeist sehr frei und gerne bereits garniert mit eigenen Gedanken. Hierdurch bleibt das Gespräch stets im Fluss, es entstehen keine Verzögerungen durch Übersetzungspausen. Allerdings kann man die feinen Nuancen des Gesprächs nur mit guten Englischkenntnissen genießen. Und wenn man diese beim Publikum voraussetzt, stellt sich die Frage, warum im Lesungsblock der deutschsprachige Part (vorgetragen von Gregor Henze, der kürzlich noch als Vogelscheuche in „Der Zauberer von Oz“ am Essener Grillo-Theater zu erleben war) einen weit größeren Anteil hatte als die Lesung durch den Autor selbst. Doch was soll’s: Boyle und Henze führen im Wechsel ein in das Szenario des Romans, begleiten die Hauptfiguren Fitz und Joanie zu ihrer ersten „Session“ beim Uni-Professor und späteren LSD-Guru Timothy Leary. Zu hören bekommt man an diesem Abend nur eine Passage ganz zu Beginn des Romans, in der zwar der Ton des Buches deutlich wird, die Figurenkonstellation und die aufkommenden Konflikte sich jedoch erst langsam abzuzeichnen beginnen. Dabei hätte es sich gelohnt, Kostproben aus unterschiedlichen Abschnitten des Romans zu erhalten. So wechselt im Laufe der Geschichte die Erzählperspektive von Fitz zu Joanie und wieder zurück, aus dem anfänglich zögerlichen Wunsch, durch die Nähe zu Leary mit dem Studium vorwärts zu kommen, entwickelt sich eine Kommune mit sektenhaften Zügen.
Outside looking in
So bleibt es Margarete von Schwarzkopfs Aufgabe, darauf hinzuweisen, dass „Das Licht“ unter dem Portrait des Drogenpapstes Leary vor allem auch ein vielschichtiger Eheroman ist. Sie betont, wie lebensnah Boyle insbesondere die Figur des anfangs 13jährigen Sohnes Corey gelungen ist und kitzelt so die Information aus dem Autor heraus heraus, dass er ursprünglich sogar einen längeren Abschnitt aus der Perspektive des Heranwachsenden geschrieben, diesen aber wieder verworfen habe, da sich dieser nicht in den Grundton des Buches einpassen ließ. Als sie den Autor darauf anspricht, dass der deutsche Titel so ganz anders als der Originaltitel ist, intoniert Boyle – wie um zu beweisen, dass er nicht zu Unrecht als Rockstar der Literaturszene bezeichnet wird – kurz „Legend of a mind“ von The Moody Blues: „Timothy Leary's dead. No, no no no, he's outside, looking in.” Dieser Songzeile ist der Originaltitel “Outside looking in” entliehen. Als Dirk van Gunsteren bei der Übersetzung den Eindruck hatte, hierfür keine klingende Entsprechung im Deutschen zu finden, kam von Boyle sehr schnell der Titelvorschlag „Das Licht“, denn „The light“ stand für ihn ebenfalls in der engeren Wahl. Über sein nächstes Projekt verrät Boyle, der das Schreiben als seine Droge bezeichnet und so in beständigem Zwei-Jahres-Rhythmus neue Romane produziert, noch nicht allzu viel. Seine Recherche geht in Richtung tierischer Intelligenz – doch wohin dies literarisch führen wird, ist noch offen.
Ein nahbarer Autor
Im Anschluss an den kurzweiligen Abend bildet sich vor der Bühne eine Signierschlange, die einer umgekehrten Hydra gleich aus drei Richtungen des Saales zusammengeführt wird. Man hat leicht den Eindruck, dass jede/r einzelne der 1.200 Besucher ein Autogramm ergattern will. Sicherheitshalber hat Beate Scherzer mit Blick auf die eine oder andere prall gefüllte Büchertasche klargestellt, dass neben dem aktuellen Roman höchstens ein Lieblingsbuch pro Person signiert wird. Ganz im Gegensatz zur Situation auf deutschen Autobahnen funktioniert hier das Reißverschlussverfahren, das unaufgeregte Personal der Lichtburg regelt den Zugang auf die Bühne und Christina Knecht, Pressechefin des Hanser Verlages, schlägt die Bücher jeweils auf der zu signierenden Seite auf, so dass der Autor wie am Fließband unterschreiben könnte. Boyle jedoch nimmt sich Zeit für jede Leserin und jeden Leser. Ein paar Sekunden nur, ein paar Worte, ein Händedruck, ein Selfie hier und da – vor allem aber stets ein einnehmendes Lächeln. So dürften selbst diejenigen, die zwei Stunden in der Schlange ausharren mussten, mehr als nur eine Unterschrift im Buch ihr eigen nennen: Die Erinnerung an eine Begegnung, die trotz der Kürze nachhallt.
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