Ein riesiger Bildschirm, ein Klavier, das Roland Orzabals „Mad World“ vom Ohrwurm bis zur Folter intonieren wird, und zwei kleine Räume, die sich später als Bungalows identifizieren werden – das alles reicht dem Theatermacher aus, um mit seiner Orestie das Grauen in die Bochumer Kammerspiele zu bringen. Aischylos‘ Stück als Basis für „Orest in Mossul“ hatte im März im Cultural Café in Mossul Premiere, denn Raus filmische Inszenierung vor Ort war auch ein Workshop für irakische Schauspielstudenten, und so wurde visuell aus dem zerstörten Mossul wieder die alte geschleifte Stadt Ninive und aus dem aktuellen brutalen Krieg dort ein Spiegel auf den blutigen Zwist im Aischylos. Die Chor-Szenen auf der Videoleinwand wurden im Frühjahr in der zerstörten Kunstakademie in Mossul gedreht, gedreht wurde auch auf dem Dach eines zerbombten Kaufhauses, von wo der IS Schwule in die Tiefe stürzte.
Die musikalische Dauerschleife macht die Geschichte um Agamemnon, der seine Tochter Iphigenie meuchelt, um Wind für seine Flotte nach Troja zu bekommen, eigentlich quälend genug. Doch nach dem Kriegsbericht über ein Video mit 100 Stunden Hinrichtungen im Irak ist die Betroffenheit im Zuschauerraum auch körperlich zu spüren. Dabei ging es im antiken Griechenland nicht besser zu, Blut für Blut, Leben für Leben und mittendrin mischten die Götter (heute die NSA) kräftig mit: Gattin Klytamnestra killt den Gatten nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg. Sohn Orest tötet dafür die Mutter und ihren Geliebten Aigisthos (filmisch in den ehemaligen Luxus-Bungalows von Saddam Hussein). Und dann sind Mythos und Inszenierung am wichtigsten Punkt des Abends, der sich um Schuld und Sühne dreht. Wird aus den IS-Massakern im Irak wieder eine endlose Folge von Gewalt gegen Gewalt, wie es der Athreus-Fluch vorsah? Die Zuschauer können sich nach dem qualvollen, scheinbar minutenlangen Strangulieren Klytaimestras (und das nach den Genickschuss-Hinrichtungsszenen) sicher kaum noch eine Antwort vorstellen. Können es die Menschen im Irak?
Bei Aischylos entkommt der Muttermörder seiner Strafe. Die Erinnyen unterliegen der Göttin Athene, und der Fluch von Gewalt und Gegengewalt war durchbrochen. In der modernen Jetztzeit, wo jeder Frieden auch eine Umsatzeinbuße börsennotierter Waffenhersteller generiert, scheint das unmöglich – und die Götter sind verschwunden. Die Schauspielerin, die mit Kopftuch die Athene spielt, war selbst in den IS-Terror involviert, musste aus Angst kollaborieren, sie fragt den jungen irakischen Schauspieler-Chor nach dem Umgang mit den schlachtenden Mördern, doch die Abstimmung führt ins Leere. Kein Vergeben, keine Vergeltung. Der Weg in der zerstörten Stadt und in der ganzen Region wird eine Jahrhundertaufgabe werden, und das Sterben wird weitergehen. Die Parallelen leuchten ein, der gefährliche Dreh ist ein Abenteuer und der Workshop für die Studenten in Mossul sicher ein Geschenk. Die zusammengesetzte Inszenierungs-Mischung aus Film, adaptierten Fernsehbildern und der Erzählung im Kammerspiel-Raum war eine kolossale Idee, die aber den Ansprüchen an ein Theaterstück auf den Bühnen-Brettern nicht standhielt. Ein interessanter Abend, eigentlich Kriegsberichterstattung – viel gelernt, viel zum Nachdenken, aber die Standing Klatschmarsch-Orgie vom Premierenpublikum war einfach ein Tacken zu viel.
„Orest in Mossul“ | R: Milo Rau | 23., 24., 26., 28., 29.5. 19.30 Uhr, 30.5. 19 Uhr | Schauspielhaus Bochum, danach bis 01/2020 am NT Gent | www.schauspielhausbochum.de
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