Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
14 15 16 17 18 19 20
21 22 23 24 25 26 27

12.578 Beiträge zu
3.804 Filmen im Forum

Anna Drexler und Mercy Dorcas Otieno
Foto: Matthias Horn

Am Ende bleibt der Schmelztiegel

05. Mai 2021

Dušan David Pařízek inszeniert „Peer Gynt“ in Bochum – Bühne 05/21

Eine leere Schräge auf der Bühne. Ein fast leerer Zuschauerraum im Großen Haus. Dort wird Henrik Ibsens Peer Gynt sie (wie immer) alle bekämpfen, abwehren, schlagen. Selbst Armeen würden seinen Größenwahn nicht zähmen. Jack White hat das Bochumer Schauspielhaus erreicht. Erst eroberte seine Hymne „Seven Nation Army“ die Fußball-Stadien, jetzt rezitieren sie in ihn schon im Theater. „And the feeling coming from my bones, Says, Find a home.“  Genau da liegt ein Schlüssel im Wesen des Antihelden. Er will einfach kein Zuhause finden und wird es auch nicht. Die „Seven“ (Konstantin Bühler, William Cooper, Anna Drexler, Michael Lippold, Lukas von der Lühe, Mercy Dorcas Otieno, Anne Rietmeijer) rauschen also durch das dramatische Gedicht, das an diesem Abend kein Happy End finden wird, das den Zuschauer draußen an den Bildschirmen und Displays vielleicht ratlos überlegen lässt, ob bei früheren Inszenierungen die Kolonialismus-Debatte einfach unterschlagen wurde. Nein. Der Einschub von Jungfrau Anitra in der Oase stammt von der ghanaischen Autorin Ama Ata Aidoo und räsoniert über den Aufstieg des Kontinents, der sich seine Schätze zurückholt. Keine Utopie, auch spekulativer Afrofuturismus ist das leider nicht. Der Abend zwischen großartig monotonem Bühnenbild und ausgetauschten Geschlechterrollen ist dennoch überaus sehenswert, erfordert höggschde Konzentration um Songs, Fremdzitate (mein Favorit: Im Flugzeug gibt es wegen Turbulenzen keine Atheisten), Goethes Gretchen-Anspielungen und wechselnden Figurenchoreografie durch Mehrfachbesetzung.

Gruselige Ausgestaltung von Frauenrollen

Regisseur Dušan David Pařízek hat in Bochum wohl das Maximum an Zeitgenössischkeit aus dem auch schon fälschlich als Schelmenstück heroisierten dramatischen Gedicht herausgefiltert. Anna Drexler ist eine Anzahl Peers auf Speed, Michael Lippold als Aase immer zu gut gekleidet. Und die innovative Livemusik des Ensembles mischt dazu die wenigen stillen Szenen weg, die noch übrig geblieben sind. Außergewöhnlich ist die Mechanik der schrägen Stellage, die alle nötigen Bilder von Peers Weltreise eher minimalistisch assoziiert. Requisiten sind Mangelware, den aufgenötigten Schwanz der Trolle mal ausgenommen. Die (entlarvten?) männlichen Herrschaftsgesten kulminieren in der letzten Szene, in der alt gewordene nordische Ich-Sucher endlich zu seinem angenommenen Selbst bei der schon ewig im Wald hockenden Solveig zurückkehrt und natürlich gerettet werden will. Die olle Zwiebel braucht da gar nicht bis zum Ende geschält werden, denn hoppsa, knapp einhundertfünfzig Jahre nach der Uraufführung ist die reine Seele nicht mehr an Aufopferung interessiert, greift sogar den Schöpfer Ibsen selbst an und: „Ich passe nicht mehr auf Papier. Ich lasse dich allein! Ich möchte Solveig nicht mehr sein“. Die gruselige Ausgestaltung von Frauenrollen in zahlreichen klassischen Stücken ist seit dem Burning Issues-Theatertreffen bekannt und der serielle Blick darauf wichtig für die Auseinandersetzung mit der immer noch riesigen Geschlechter-Ungerechtigkeit an den Bühnen, geschickt verpackt macht dies der schicke Abgesang auf den westlichen Dramenkanon von Anne Rietmeijer am Ende des von einem Mann inszenierten Peer Gynt nach Ibsen.

Peer Gynt | 15.5. 19.30 (Livestream) | Schauspielhaus Bochum

PETER ORTMANN

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Der Buchspazierer

Lesen Sie dazu auch:

Postapokalyptische Manege
„Essence“ von Urbanatix am Schauspielhaus Bochum – Bühne 02/24

„Ich hoffe doch, dass wir alle überleben“
Regisseurin Linda Hecker über „Totalausfall“ am Schauspielhaus Bochum – Premiere 11/23

Wurzeln sind stärker als das Klima
„Wo steht dein Maulbeerbaum?“ im Schauspielhaus Bochum – Auftritt 02/23

Hunderte gelbe Schuhe auf Pump
„Der Besuch der alten Dame“ in Bochum – Bühne 02/22

Unerfüllte Liebe potenziert die Poesie
Christopher Rüping mit „Das neue Leben“ am Bochumer Schauspielhaus – Auftritt 02/22

Die Toten und die Politiker
„Antigone. Ein Requiem/ Die Politiker“ in den Kammerspielen Bochum – Bühne 12/21

Gemeinsam für Nachhaltigkeit
Diskussionsreihe im Bochumer Forum

Selbst der Muezzin ruft um Hilfe
Aischylos‘ Orestie als Kriegsberichterstattung in Mossul – Auftritt 06/19

Moderne Klassiker und mystische Rituale
Bühnen-Vorschau: Leonce & Lena, Verbrechen & Strafe, Medea.Matrix

Im Takt der Angst
Matthias Brandt und Jens Thomas in Bochumer Kammerspielen – Literatur 05/16

Das heilige Tribunal zu Güllen
Anselm Weber inszeniert Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ am Bochumer Schauspielhaus – Auftritt 06/15

Bühne.

Hier erscheint die Aufforderung!