Eine leere Schräge auf der Bühne. Ein fast leerer Zuschauerraum im Großen Haus. Dort wird Henrik Ibsens Peer Gynt sie (wie immer) alle bekämpfen, abwehren, schlagen. Selbst Armeen würden seinen Größenwahn nicht zähmen. Jack White hat das Bochumer Schauspielhaus erreicht. Erst eroberte seine Hymne „Seven Nation Army“ die Fußball-Stadien, jetzt rezitieren sie in ihn schon im Theater. „And the feeling coming from my bones, Says, Find a home.“ Genau da liegt ein Schlüssel im Wesen des Antihelden. Er will einfach kein Zuhause finden und wird es auch nicht. Die „Seven“ (Konstantin Bühler, William Cooper, Anna Drexler, Michael Lippold, Lukas von der Lühe, Mercy Dorcas Otieno, Anne Rietmeijer) rauschen also durch das dramatische Gedicht, das an diesem Abend kein Happy End finden wird, das den Zuschauer draußen an den Bildschirmen und Displays vielleicht ratlos überlegen lässt, ob bei früheren Inszenierungen die Kolonialismus-Debatte einfach unterschlagen wurde. Nein. Der Einschub von Jungfrau Anitra in der Oase stammt von der ghanaischen Autorin Ama Ata Aidoo und räsoniert über den Aufstieg des Kontinents, der sich seine Schätze zurückholt. Keine Utopie, auch spekulativer Afrofuturismus ist das leider nicht. Der Abend zwischen großartig monotonem Bühnenbild und ausgetauschten Geschlechterrollen ist dennoch überaus sehenswert, erfordert höggschde Konzentration um Songs, Fremdzitate (mein Favorit: Im Flugzeug gibt es wegen Turbulenzen keine Atheisten), Goethes Gretchen-Anspielungen und wechselnden Figurenchoreografie durch Mehrfachbesetzung.
Gruselige Ausgestaltung von Frauenrollen
Regisseur Dušan David Pařízek hat in Bochum wohl das Maximum an Zeitgenössischkeit aus dem auch schon fälschlich als Schelmenstück heroisierten dramatischen Gedicht herausgefiltert. Anna Drexler ist eine Anzahl Peers auf Speed, Michael Lippold als Aase immer zu gut gekleidet. Und die innovative Livemusik des Ensembles mischt dazu die wenigen stillen Szenen weg, die noch übrig geblieben sind. Außergewöhnlich ist die Mechanik der schrägen Stellage, die alle nötigen Bilder von Peers Weltreise eher minimalistisch assoziiert. Requisiten sind Mangelware, den aufgenötigten Schwanz der Trolle mal ausgenommen. Die (entlarvten?) männlichen Herrschaftsgesten kulminieren in der letzten Szene, in der alt gewordene nordische Ich-Sucher endlich zu seinem angenommenen Selbst bei der schon ewig im Wald hockenden Solveig zurückkehrt und natürlich gerettet werden will. Die olle Zwiebel braucht da gar nicht bis zum Ende geschält werden, denn hoppsa, knapp einhundertfünfzig Jahre nach der Uraufführung ist die reine Seele nicht mehr an Aufopferung interessiert, greift sogar den Schöpfer Ibsen selbst an und: „Ich passe nicht mehr auf Papier. Ich lasse dich allein! Ich möchte Solveig nicht mehr sein“. Die gruselige Ausgestaltung von Frauenrollen in zahlreichen klassischen Stücken ist seit dem Burning Issues-Theatertreffen bekannt und der serielle Blick darauf wichtig für die Auseinandersetzung mit der immer noch riesigen Geschlechter-Ungerechtigkeit an den Bühnen, geschickt verpackt macht dies der schicke Abgesang auf den westlichen Dramenkanon von Anne Rietmeijer am Ende des von einem Mann inszenierten Peer Gynt nach Ibsen.
Peer Gynt | 15.5. 19.30 (Livestream) | Schauspielhaus Bochum
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Ehrung für ein Ruhrgebiets-Quartett
Verleihung des Brost-Ruhr-Preises 2024 in Bochum – Spezial 11/24
Postapokalyptische Manege
„Essence“ von Urbanatix am Schauspielhaus Bochum – Bühne 02/24
„Ich hoffe doch, dass wir alle überleben“
Regisseurin Linda Hecker über „Totalausfall“ am Schauspielhaus Bochum – Premiere 11/23
Wurzeln sind stärker als das Klima
„Wo steht dein Maulbeerbaum?“ im Schauspielhaus Bochum – Auftritt 02/23
Hunderte gelbe Schuhe auf Pump
„Der Besuch der alten Dame“ in Bochum – Bühne 02/22
Unerfüllte Liebe potenziert die Poesie
Christopher Rüping mit „Das neue Leben“ am Bochumer Schauspielhaus – Auftritt 02/22
Die Toten und die Politiker
„Antigone. Ein Requiem/ Die Politiker“ in den Kammerspielen Bochum – Bühne 12/21
Gemeinsam für Nachhaltigkeit
Diskussionsreihe im Bochumer Forum
Selbst der Muezzin ruft um Hilfe
Aischylos‘ Orestie als Kriegsberichterstattung in Mossul – Auftritt 06/19
Moderne Klassiker und mystische Rituale
Bühnen-Vorschau: Leonce & Lena, Verbrechen & Strafe, Medea.Matrix
Im Takt der Angst
Matthias Brandt und Jens Thomas in Bochumer Kammerspielen – Literatur 05/16
Das heilige Tribunal zu Güllen
Anselm Weber inszeniert Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ am Bochumer Schauspielhaus – Auftritt 06/15
Praktisch plötzlich doof sein
Helge Schneider präsentiert seine neue Tour – Prolog 12/25
Tanzbein und Kriegsbeil
Filmdoku in Düsseldorf: Urban Dance in Kiew – Tanz an der Ruhr 12/25
Der böse Schein
„Söhne“ in der Moerser Kapelle – Prolog 12/25
„Totaler Kulturschock. Aber im positiven Sinn“
Schauspielerin Nina Steils über „Amsterdam“ am Bochumer Schauspielhaus – Premiere 12/25
Verlorene Jahre
„The Drop“ am Jungen Schauspiel in Düsseldorf – Prolog 11/25
Kampf, Verlust und Liebe
Vorweihnachtliche Stücke für junges Publikum im Ruhrgebiet – Prolog 11/25
Tanz der Randfiguren
„Der Glöckner von Notre-Dame“ in Essen – Tanz an der Ruhr 11/25
„Jede Inszenierung ist eine Positionierung“
Regisseur Kieran Joel über „Antichristie" am Schauspielhaus Dortmund – Premiere 11/25
Das selbsternannte Volk
„Die Nashörner“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Prolog 10/25
Körper und Krieg
„F*cking Future“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 10/25
Foltern ohne Reue
„Törleß“ am Bochumer Rottstr 5 Theater – Prolog 10/25
„Subjektive Wahrnehmung ist verboten“
Regisseurin Jette Steckel über „Das große Heft“ am Bochumer Schauspielhaus – Premiere 10/25
Graf Fridol geht auf Nachtschicht
Musik-Improtheater beim Duisburg Fringe Festival – Festival 09/25