Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ gab 2016 den Anstoß dafür, den Bildungsaufstieg und die damit einhergehende Entfremdung von der eigenen proletarischen Herkunft zu reflektieren. Autofiktive Romane wie die von Édouard Louis kreisen seitdem um die stets schuftenden Väter und Mütter, die ihre Sprösslinge nicht mehr verstehen, seitdem diese auszogen, um sich selbst zu verwirklichen, intellektuell oder künstlerisch.
Dass sie wiederum in den Kreisen, in denen sie im besten Fall ökonomisch stranden, nie ganz ankommen, gehört ebenso zum Stoff, der seitdem großzügig soziologisch gewendet wird. Annie Ernaux beschrieb diese Verwandlung zur Bildungsbürgerin in ihrem Roman „Der Platz“ im Jahr 1983 als erste. Ihre autobiographische Durchdringung der Klassengesellschaft hat Julia Wissert nun im Theater Dortmund inszeniert. Wegen des Lockdowns ist es erst die zwei Regie, die Wissert seit ihrer Intendanz übernimmt.
Exakt und emotionslos
Damit hat sich die Intendantin für eine knifflige Vorlage entschieden, denn Ernaux entblättert erstens ihre Klassen-Odyssee konsequent aus einer autofiktiven Ich-Perspektive, was einem Bühnenspiel nicht gerade entgegenkommt. Zweitens schreibt die französische Autorin in einem konzisen, fast analytischen Duktus. Wer diesen ohne Zweifel großartigen Text dramatisiert, kann also leicht stolpern, wenn der Theaterabend mehr sein soll als eine souveräne Lecture Perfomance.
Wissert lässt sieben Darsteller:innen den Text vortragen, weniger chorisch und klagend, sondern exakt und emotionslos, womit sich Ernaux‘ Prosa zwar in diesem Stimmengeflecht auflöst, die Bühnenadaption jedoch an ihren Sätzen klammert. Oft formieren sich die Darsteller:innen zu einer Gruppe, als verhandelten sie eine kollektive Erfahrung. Alle stecken in grellfarbener Kleidung (Kostüme: Mascha Mihoa Bischoff), mit der sie die feinen Unterschiede signalisieren, durch die sich diese bourgeoise Bohemiens von der funktionalen Alltagsgarderobe abgrenzen, die sich wiederum der von Ernaux porträtierte, proletarische Vater überstreift.
Proletarische Enge
Um sein Leben und seinen Tod in der ländlichen Normandie geht es auch in dieser Theateradaption. Oft sind es die von Ernaux beschriebenen, alten Fotos ihres Vaters, die aufgesagt werden, und an denen sich die Klassenmerkmale ablesen lassen: seine Gestik, sein Habitus. Auch der kleine Aufstieg des Vaters vom Fabrikarbeiter zum Laden- und Kneipenbesitzer wird geschildert. Vordergründig wirkt die Inszenierung dabei selten. Zentrum der Bühne ist ein Haus, es symbolisiert die Selbstgenügsamkeit des Vaters, dem es darum ging, den gesellschaftlich errungenen Platz zu behalten.
Während seine Tochter in den höheren Schuldienst vordringt, doch trotz ihrer Bildung und Belesenheit zwischen zwei, gesellschaftlichen Welten kippt. Codes der neuen Kreise müssen studiert, die Worte sorgfältig abgewogen werden. In einer Szene steht Antje Prust minutenlang wie im Ballett auf den Zehenspitzen, als ginge es darum, diesen Balanceakt zwischen den gesellschaftlich eingerichteten Plätzen zu demonstrieren. Wenig später ertönt Coronas „The Rhythm of the Night“ und Mervan Ürkmez tanzt zu diesem Pop-Hit, ausgelassen, fast exaltiert. Zappelt sich da wer von einer tristen Herkunft frei, als bürgerliche Geste gegen die proletarische Enge? Vielleicht. Von Ernaux‘ Vorlage emanzipiert sich diese Szene jedenfalls nicht konsequent.
Der Platz | 6., 7.11., 2., 3., 4.12. | Theater Dortmund | 0231 502 72 22
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