Die „Jack Freak Pictures” geistern noch durch den Kopf, wenn man die heiligen Hallen des ehemaligen Getreidelagers in Duisburg betritt. Das extravagante Künstlerduo Gilbert und George aus England zeigt dort seinen neuen Zyklus, die „London Pictures“. Vom Allgemeinen ins Spezielle könnte man denken, vom Union Jack und der Selbstbefindlichkeit vergangener Jahre zur gesellschaftspolitischen Kleinteiligkeit – wenn die beiden Kunstgiganten das nicht schon in den letzten Jahrzehnten längst ausgereizt hätten. Irgendwie. Und dann hängen da 69 großformatige völlig neue Arbeiten an den weißen Wänden. Immer noch Pop, immer noch Gilbert (the Shit) und George (the Cunt) auf den Collagen, aber irgendwie doch anders. „Wir wollen nicht wie irgendjemand anderes sein“, das war immer ein Statement, aber Stillstand kennen sie nicht: „Wir entwickeln uns immer weiter.“ Jetzt sind sie in der Kriminalität gelandet, Normalität in London, ausgefallen und ausgefeilt in ihren Headline-Werken über Sex, Murder und Death.
Über lange Jahre trugen Gilbert & George 3.712 Plakate der britischen Boulevardpresse zusammen, die mit Sex, Murder und Death Kasse macht. Sie haben sie am Kiosk oder in Läden geklaut, als Gentlemandiebe der gehobenen Klasse, kaufen ging nicht, zu abgedreht erschien den Besitzern ihr Ansinnen. Also gab es einen Standardtrick: Der eine kaufte Kaugummi, der andere packte heimlich die bedruckte Pappe ein. Zu Hause haben sie die Beute gesichtet, abfotografiert und anhand von 292 Stichwörtern sortiert. Death, Arrest oder Burglar ist da zu lesen, aber auch Schlagzeilen von ermordeten Jugendlichen oder Todesfahrern. Auf allen riesigen Tableaus, die aus zahlreichen Einzelfotografien bestehen, die alle einzeln schwarz gerahmt sind, sind Gilbert und George natürlich auch zu sehen, sie schauen ernst auf den Betrachter, keine Freakshow oder Anzüglichkeiten mehr, das ist bei der Thematik auch nicht mehr notwendig. Alle Bilder werden durch die Queen geadelt, die als historischer Münzstempel immer unten rechts mit eingebaut ist, darunter „It’s written all over them“. Elizabeth wird den beiden verzeihen. Das Duo sieht es auch eher technisch: „Das ist eine Art von amtlichem Siegel“, sagt George, der Brite, der seit den 1960er Jahren mit Gilbert aus Südtirol zusammen lebt und arbeitet. Kennengelernt haben sie sich an der Kunst-Uni und nur (und das ist eine gesicherte Anekdote), weil George wohl der Einzige war, der Gilberts Englisch verstand.
So einförmig, wie die 69 Arbeiten da auf den ersten Blick erscheinen, sind sie gar nicht. Und wenn die Besucher das Gefühl haben, dass sie nach mehreren Tableaus abstumpfen, die Wirkung nachlässt, dann haben sie das universale Prinzip verstanden, wie heute Prävention vor und Reaktion auf Gewalt und Betrug funktioniert: nämlich ausschließlich schleppend. Wer dafür verantwortlich ist? Auch das haben Gilbert und George in die Bilder eingebaut. Auf vielen ist auch das britische Pfundzeichen vorhanden, mit zum Teil gigantischen Beträgen. „Money Last“ (2011) oder „Money First“ (2011) sind die Titel, die die eigentlichen Verursacher der gesellschaftlichen Misere benennen. Die Queen hat dennoch immer nur ihr Münzeinheitsgesicht aufgesetzt.
„Gilbert & George – London Pictures“ | bis 30.6. | Museum Küppersmühle, Duisburg | 0203 30 19 48 10
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