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Kerstin Meincke
Foto: Jens Nober

„Konventionen über Bord werfen“

27. November 2025

Co-Kuratorin Kerstin Meincke über „Germaine Krull: Chien Fou“ im Essener Museum Folkwang – Sammlung 12/25

Germain Krull (1897-1985) ist eine feste Größe der Fotografie-Avantgarde der 1920er und 30er Jahre. Die Künstlerin, Kriegsberichterstatterin und Hotelmanagerin lebte u.a. in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und Thailand. Die Ausstellung „Chien Fou“ zeigt auch von ihr geschriebene Texte.

trailer: Frau Meincke, wenn man von Germaine Krulls Lebensgeschichte hört, braucht man dann noch ihre Bilder?

Kerstin Meincke: Ihre Lebensgeschichte vermittelt sich in der Ausstellung stark aus Krulls eigener Gedankenwelt heraus. Wir lassen sie in der Ausstellung durch ihre eigenen Texte sprechen. Krull hat von den 1920er Jahren bis ins hohe Alter geschrieben, möglicherweise auch schon früher. Der letzte Text, den wir berücksichtigt haben, ist auf 1981 datiert.

Der Schwerpunkt ihrer fotografischen Arbeit war auch von einer Stilrichtung innerhalb des Bauhaus‘ inspiriert, dem Neuen Sehen. Was muss man sich darunter vorstellen?

Es geht um das neue Betrachten und darum, neue Blicke zu eröffnen und Konventionen über Bord zu werfen. Das geschah in der Fotografie auch im Wechsel mit anderen Kunstformen dieser Zeit, zum Beispiel mit der abstrakten Malerei oder dem experimentellen Film.

Dazu gehörte auch ihre experimentelle Aktfotografie?

Ja, diese war sehr außergewöhnlich. Ihre erste Publikation von Aktfotografien stammt von 1918, da war sie noch nicht so experimentell. Wir gehen davon aus, dass „Der Akt“ ihre erste Buchpublikation überhaupt war. Es war nicht ihre eigene Publikation, aber sie war als eine von mehreren Positionen in dem Band vertreten. Der weibliche Körper bildete die ganzen 1920er Jahre eine Konstante ihres künstlerischen Schaffens. Die Beschäftigung mit der Aktfotografie endet – aus heutiger Sicht – abrupt mit dem Erscheinen des Portfolios „Études de nu“ 1930 – und das ist gleichzeitig der Ausgangspunkt unserer Ausstellung. Diesem Portfolio stellte sie interessanterweise ein sehr politisches Manifest über die Rolle desfotografierenden Menschen voran.

In ihrem ersten Buch „Métal“ von 1928 beschäftigte sie sich bereits mit Metallkonstruktionen, zeigte aber auch Reportagen wie „Die Arbeiterinnen von Paris“.

Die Form des Portfolios war eine gängige Art der Veröffentlichung dieser Zeit. Dabei handelt es sich um lose Blätter, zwar durchnummeriert, aber in der Abfolge doch variabel. „Métal“ umfasste 64 solcher Blätter, die sich ausschließlich mit Eisenkonstruktionen beschäftigt haben. Die Aufnahmen sind zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten entstanden, etwa in Rotterdam, Paris und Marseille. Fotografierte Gegenstände waren beispielsweise der Eiffelturm, aber auch Details aus Maschinen der industriellen Produktion.

Avantgarde als Abenteuer“ hieß 1999 eine Ausstellung mit ihren Werken im Museum Folkwang. Ist sie oder bleibt sie immer noch eine Entdeckung?

Das würde ich nicht sagen. Krull ist schon lange eine feste Größe in der Fotografie der Avantgarde der 1920er und 30er Jahre als wichtige Vertreterin und Protagonistin des Neuen Sehens. Daran besteht kein Zweifel.

Was zeigt die Ausstellung im Museum Folkwang?

Wir zeigen zum einen viele Ausschnitte aus ihren eigenen Texten, ergänzt mit den Fotografien, die sich mit diesen festgehaltenen Gedanken verbinden lassen oder die unmittelbar darauf bezogen werden können. Fast das ganze Material stammt aus dem Nachlass der Fotografin, der sich seit 1995 im Folkwang Museum befindet. Wir setzen auch einen starken Fokus auf ihre künstlerischen und politischen Netzwerke, aber auch auf die Tätigkeitsfelder, nachdem sie Europa nach 1941 dauerhaft verlassen hat. Dies ist auch ein Schwerpunkt, der bisher noch nicht so stark in der Rezeption Germaine Krulls berücksichtigt wurde.

Aber sie musste Europa doch auch verlassen?

Ja. Sie ist 1941 über Marseille nach Martinique emigriert, von da aus weiter nach Rio de Janeiro, hat sich dort dem freien Frankreich angeschlossen, der französischen Resistance. Von dort aus setzte sie erneut über den Atlantik über, nach Brazzaville in der heutigen Republik Kongo, damals noch im französischen Kolonialgebiet Französisch-Äquatorialafrika, wo sie als propagandistische Fotografin den Presseservice der aus dem Exil operierenden Résistance unter Charles de Gaulle geleitet hat. Nach dem Krieg ist sie nur kurz ins befreite Europa zurückgekehrt, aber da sie ihre Entscheidungen immer mit einer sehr starken Haltung verknüpft hat, wollte sie dort nicht mehr unter den ehemaligen Täterinnen und Tätern leben und hat sich zunächst in Thailand, später in Indien niedergelassen. Sie kam erst Anfang der 1980er Jahren zurück ins hessische Wetzlar, wo ihre Schwester lebte.

Autor:in unbekannt, Germaine Krull mit Contax, um 1932, Silbergelatineabzug, 11,5 x 14,5 cm, © Nachlass Germaine Krull, Museum Folkwang, Essen

Zwischen 1947 und 1962 arbeitete sie als Leiterin des Hotels Oriental in Bangkok. Als Kind ihrer Zeit hatte sie wohl auch koloniale Tendenzen?

Ja, ihrem Leben in Bangkok und ihrer Tätigkeit als Hotelmanagerin hing gewiss ein kolonialer Habitus an. Das Hotel war, ihren Beschreibungen nach, insbesondere ein von Expats (längere Zeit im Ausland Arbeitende, d. Red.) vielfrequentierter Ort. Koloniale Tendenzen zeigen sich aber auch in der fotografischen Praxis, sie hat zu Beginn der 1960er Jahre ein großes Projekt zu Kulturgütern in Südostasien für André Malraux begonnen.

Dafür hat sie die Relikte und Denkmäler asiatischer Kulturen dokumentiert?

Genau. Dabei handelte es sich um einen geplanten Beitrag für die Weltkunstgeschichte „L’Univers des formes“ von André Malraux, die er gemeinsam mit Georges Salles auf den Weg gebracht hatte. Entstanden ist ein sehr umfangreiches fotografisches Konvolut, aus dem wir in der Ausstellung auch Ausschnitte zeigen. Wir wollen aber auch Kontinuitäten im künstlerischen Denken zeigen, die erhalten geblieben sind. Deshalb stellen wir ihr bereits erwähntes Portfolio „Métal“ einem Tableau von Baudenkmälern und Tempelanlagen aus Südostasien gegenüber.

Wie wichtig war ihre Bekanntschaft mit dem Dalai Lama?

Für Germaine Krull war diese Bekanntschaft, so ist es ihren Aufzeichnungen zu entnehmen, auf persönlicher Ebene sehr wichtig. Sie unterhielt mit ihm einen regen Briefwechsel, beide haben auch Bücher getauscht und sie sind sich mehrmals persönlich begegnet. Sein Sekretär hat auch das Vorwort zu ihrem Buch „Tibetans in India“ von 1968 geschrieben. Wichtig für sie war aber auch ihr viel engerer buddhistischer Lehrmeister Sakya Trizin, sie wurde Teil seiner buddhistischen Sakya-Gemeinschaft und lebte mit ihm und seiner Familie jahrelang zusammen.

Einfach nur klick, klick, klick zu machen – das führt zu nichts“, soll sie gesagt haben. Klingt das nicht visionär im Hinblick auf digitale Fotografie?

Sehen Sie das so? (lacht) Ich kann nur ahnen, worauf sie sich damit bezogen hat: darauf, dass Fotograf:innen das Motiv in sich spüren müssen, bevor das Bild entsteht. „Dann machen sie ein, zwei Fotos. Mehr braucht es nicht.“ (aus einem Interview Germaine Krulls, Paris, 1967, im Original auf Französisch) Ich glaube, dass sich diese Haltung nicht grundlegend verändert hat – auch nicht mit Einzug der digitalen Fotografie.

Germaine Krull: Chien Fou | 28.11. - 15.3. | Museum Folkwang, Essen | 0201 884 50 00

Interview: Peter Ortmann

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