In der Ausstellung zeigen 18 Künstlerinnen Werke, die sich mit kosmischen Theorien beschäftigen.
trailer: Frau Arns, brauchen wir mal wieder einen ordentlichen Sonnensturm?
Inke Arns: Ach, das weiß ich nicht. Dass Sonnenstürme stattfinden, ist ja eine Tatsache, und was sie auslösen, ist nicht immer nur positiv. Sonnenstürme können Polarlichter hervorrufen, aber eben auch die Telekommunikation massiv stören. Die Ausstellung „Genossin Sonne“ geht noch einen Schritt weiter und behauptet einen Zusammenhang zwischen Sonnenstürmen und Revolutionen. Es gibt in der Tat Theorien über die Korrelation zwischen dem elfjährigen Sonnenzyklus und politischen Revolutionen und wirtschaftlichen Rezessionen – also der menschlichen Geschichte. Letztendlich zeigen diese und andere Theorien, dass wir bzw. das Leben auf der Erde keine abgeschlossene Monade (Einheit, d. Red.) sind, sondern dass alles mit allem in Verbindung steht. Hört sich ziemlich esoterisch an, nicht?
„Genossin Sonne“ befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen dem Revolutionären, dem Kosmischen, der zeitgenössischen Kunst und ihren Einflüssen auf unseren Alltag. Geht‘s da um Astrologie in der Kunst?
(lacht) Das könnte man meinen! Mir persönlich liegt Astrologie ja total fern. Wir interessieren uns in dieser Ausstellung auch eher für astronomische Fragestellungen, und eben dafür, ob – und wenn ja, wie – kosmische Faktoren, in unserem Fall die Sonne, auf die Erde und auf uns Menschen einwirken. Es gibt allerdings durchaus einige Arbeiten, wie beispielsweise die von Suzanne Treister, die sich sehr ironisch mit Astrologie und kosmischen Raum-Zeitreisen beschäftigen. Die meisten Künstlerinnen und Künstler, die wir zeigen, haben aber eher Interesse an handfesten irdischen Entwicklungen.
Namensgeber der Ausstellung war sicher Alexander L. Chizhevsky (1897-1964) ein interdisziplinärer Wissenschaftler, Kosmist und Biophysiker, der maßgeblich die Forschungsrichtung der Heliobiologie begründete und Effekte der Luft-Ionisierung studierte.
Ich habe mich oft gewundert, warum in der Sowjetunion die Wissenschaften teils so einen esoterischen Einschlag hatten. Die Kosmisten der 1920er Jahre sind eine sehr interessante Truppe und Chizhevsky gehörte dazu. Diese Gruppe hat unter anderem die Aufhebung der Grenzen von Raum und Zeit gefordert – sie wollten Unsterblichkeit, Wiederauferstehung und Raumfahrt für alle. Verrückt, oder? Chizhevsky selbst war weit bescheidener: Er beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit der Sonne und gilt als Begründer der „Heliobiologie“. Er war der Überzeugung, dass die Geschichte maßgeblich von dem elfjährigen Zyklus der Sonnenfleckenaktivitäten beeinflusst werde, der Menschen unter anderem dazu bringe, aufzubegehren – durch Aufstände und Revolutionen. Chizhevsky machte in den 1920er- und 1930er-Jahren eine steile Karriere in der UdSSR. In den späten 1930er Jahren wurde man jedoch im Zuge der stalinistischen Säuberungen auf seine Forschungen aufmerksam, einschließlich seines grundlegenden Werkes über die „physikalischen Faktoren des historischen Prozesses“ (1924). Chizhevskij wurde aufgefordert, seine Theorien zu den Sonnenzyklen zu widerrufen, die den sowjetischen Geschichtstheorien über die Revolutionen von 1905 und 1917 widersprachen. Er weigerte sich, wurde 1942 verhaftet und musste acht Jahre in einem Arbeitslager (Gulag, d. Red.) im Ural verbringen. 1950 kam er frei, siedelte sich in Karaganda (im heutigen Kasachstan, d. Red.) an und musste dort weitere acht Jahre sowjetischer „Rehabilitierung“ durchlaufen. Ich freue mich immer, wenn ich sagen kann: Er hat das Lager überlebt – und er hat Stalin überlebt. In der Ausstellung zeigen wir ein fast 10 Meter breites Diagramm, das die Parallele von Sonnenstürmen und Revolutionen von der Französischen Revolution bis zum „Arabischen Frühling“ anschaulich darstellt.
Was ist in der Ausstellung überhaupt zu sehen? Das sieht alles sehr kugelig aus.
Klar. Die Sonne ist eine Kugel – und wenn sie abgebildet wird, wird sie oft als solche dargestellt. Wir zeigen sehr viele Videoarbeiten und wir haben eine tolle Ausstellungsarchitektur, die von den Szenografinnen Marlene Oeken und Martha Schwindling entwickelt worden ist. Wir nutzen bei dieser Ausstellung zwei Etagen im Dortmunder U, das ist doppelt so viel Fläche als in Wien, wir haben eine offene Architektur, haben alle Wände abgerissen und zeigen die Videos im offenen Raum mit Kopfhörern, die sich immer vor den Screens in den Soundtrack der jeweiligen Videos einloggen. Es gibt aber auch Skulpturen, Zeichnungen und eine 4-Kanal-Diaprojektion von Otto Piene „Die Sonne kommt näher“ aus den 1960er Jahren sowie ein Ölbild und Holzschnitte von Wolfgang Mattheuer. Und die Wiener Künstlerin Sonja Leimer zeigt Weltraumschrott. Eine schöne Mischung aus unterschiedlichen Medien.
Wie wichtig sind bei dieser Schau Erklärungen für die Besucher:innen?
Man kann sich alle Arbeiten erst einmal so anschauen. Ich denke da an Agnieszka Polskas „The New Sun“, von der auch unser Ausstellungswerbefoto kommt. Das ist eine Arbeit, die sich sehr gut erschließt, ohne dass man einen Text dazu lesen müsste. Man kann in diesem Video der Sonne zuhören, die in wechselnden Stimmungen beschreibt, was sie so auf der Erde beobachtet. Auch die Arbeit des mexikanischen Colectivo Los Ingrávidos (übers.: Kollektiv der Schwerelosen, d. Red.) funktioniert komplett ohne Text. Das sind absolut hypnotische audiovisuelle Arbeiten. Katharina Sieverding zeigt mit „Die Sonne um Mitternacht schauen (Red)“ eine Video-Arbeit ohne Sound. Bei Sieverdings Arbeit handelt es sich um eine Animation, die aus über 200.000 hochauflösenden Nasa-Bildern der Sonne besteht. Da schwebt dann auf einmal so einen Plasma-Ball mitten in der Ausstellung.
Letzte Frage: Vom Roten Riesen zum Weißen Zwerg – die Sonne wird nicht ewig eine Genossin bleiben?
Der Titel selbst ist natürlich absurd und bewusst etwas irritierend. Die Sonne ist ja eigentlich etwas vollkommen Nicht-Menschliches. Das ist eine Dimension, die wir uns gar nicht vorstellen können. Aber „Genossin Sonne“ lässt natürlich aufhorchen. Wie die Sonne als Roter Riese oder Weißer Zwerg aussehen wird, werden wir alle zum Glück nicht mehr erleben.
Genossin Sonne | bis 18.1.26 | HMKV, Dortmunder U, Ebene 3 + Ebene 6 | www.hmkv.de
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