Die fotografischen Porträts von Schausteller:innen, Clowns und Artist:innen von Wolf D. Harhammer sind eine Überraschung. Nicht dass seine Aufnahmen im Laufe der Zeit vergessen worden wären – es gab sie einfach nicht zu sehen. Harhammer hat bereits im Alter von knapp 40 Jahren, zu Beginn der 1980er Jahre, die Fotografie beendet, die er sich im Jahrzehnt davor als künstlerisches Medium für seine Begegnungen auf der Kirmes, im Varieté und Zirkus angeeignet hat. Seine künstlerischen Anfänge liegen in der Zeit der Studentenproteste, des Strebens nach Selbstbestimmung und Verwirklichung und der Suche nach Gegenwelten und privaten Nischen. Wolf D. Harhammer wurde 1941 geboren, er ist im Stuttgarter Raum aufgewachsen, für einige Zeit nach Australien ausgewandert und hat dann an der Stuttgarter Kunstakademie studiert und währenddessen auf der Kirmes als Luftballon-Verkäufer und im Zirkus beim Aufbau gejobbt.
Das ist der gesellschaftliche und soziale Kontext, aus dem heraus er seine Porträts aus der schillernden, exotischen Welt aufgenommen hat. Aber er zeigt nicht die Illusionen, weder die Zirkuskuppel noch die artistische Aktion oder das staunende Publikum. Und er fokussiert auch nicht die beengten, prekären Lebensverhältnisse dieser Einzelgänger mit ihren Berufen und Begabungen ohne vordergründigen Nutzen in einer funktionierenden, auf Gewinnmaximierung hin ausgerichteten Gesellschaft. Sondern er zeigt, wie sie sich jenseits der Scheinwerfer und der beruflichen Aktion verhalten, nach dem Auftritt und vor dem Umkleiden. Mit diesen Porträts ist 1981 im Trikont-Verlag ein Taschenbuch erschienen; die Originalabzüge und weitere Aufnahmen hat Harhammer dem Folkwang Museum als Schenkung übereignet. Vierzig Bilder zeigt nun die Ausstellung, gemeinsam mit weiteren fotografischen Porträts aus der Museumssammlung, die von August Sander und Diane Arbus bis zu Harry Hachmeister, der sich als Prinzessin inszeniert, und einem Video von Tobias Zielony reichen.
In der gemeinsamen Präsentation wird die Handschrift von Harhammer anschaulich als Unspektakuläres dort, wo man Spektakel erwartet. Deutlich wird das Interesse an den Menschen selbst, die im Gegenüber als Gesprächspartner auftreten, die etwas mitzuteilen haben und dazu in ihrer Mimik und Gestik genau beobachtet sind. Sie sind als Ganzfiguren – im „Look“ der damaligen Zeit – im kleinen, privaten Bildformat in Schwarz-Weiß festgehalten. Jenseits aller Theatralik treten sie natürlich, mit großer Selbstverständlichkeit auf, betont durch die Helligkeit des Gesichtes und die Schlichtheit des Hintergrundes. Unter den von ihm Porträtierten befinden sich Außenseiter:innen der Gesellschaft, Menschen mit Migrationshintergrund und Travestiekünstler, und Wolf D. Harhammer berichtet im Gespräch, dass ihm der schlimme Umgang mit ihren Gesellschaftsgruppen während der Nazi-Diktatur bewusst gewesen war. Über die respektvolle Würdigung aller Porträtierten und ihre Dokumentation hinaus klingen Aspekte der Individualität, der Heimat und der Suche nach dieser und der Wertschätzung und Achtung der Außenseiter an. Harhammer feiert Einzigartigkeit und wie man mit dieser sein Glück findet.
Wolf D. Harhammer – Zwei Wirklichkeiten | bis 26.5. | Museum Folkwang Essen | 0201 884 50 00
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