Die Zeiten erfordern es. So direkt war noch keine der Rauminstallationen von Aljoscha wie jetzt in Gelsenkirchen. Das beginnt mit dem Ausstellungstitel „Wesen für Frieden und Freiheit“ und setzt sich mit der gelb-blauen Einladungskarte fort. Aber immer schon klang ein gesellschaftskritischer Ton in Aljoschas Werk mit, in der Verknüpfung von sachlicher Beobachtung und poetisch vorgetragener Utopie. Aljoscha wurde 1974 im ukrainischenGlukhovals Sohn russisch-ukrainischer Eltern geboren. Seit seinem Studium Anfang der 2000er Jahre an der Kunstakademie lebt er in Düsseldorf. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten ist er zunächst mit Plastiken bekannt geworden, bei denen verhärtete Tropfen Acrylfarbe wie Perlen aufeinander ruhen, dabei vegetativ wuchern, sich winden und den umgebenden Raum regelrecht erfühlen. Sie erinnern an Korallen oder Mikroorganismen und lassen vielleicht an Mutationen denken, die sich mit ihren Tentakeln verselbständigt haben. Jedoch sind sie frei erfunden: Alles was man nicht zuordnen könne, klassifiziere man unter Bekanntes, sagt Aljoscha.
Seit einigen Jahren entstehen auch Installationen mit Röhren und Farbfetzen aus teils klarem und teils rosarot eingefärbtem Acrylglas, die aus einem See aufragen oder über den Köpfen der Betrachter zu schweben scheinen. Und so schön, ästhetisch das anmutet – erst recht, wenn sich diese Gebilde auf mehreren Metern Höhe befinden wie derzeit in der Johanneskirche in Düsseldorf – so zerbrechlich mit ihren Splittern sind sie doch. Bereits um 2008/09 hat Aljoscha sein Programm in ein Manifest des sog. Bioismus und Biofuturismus gefasst, in dem er der Menschheit eine Zukunft prophezeit, in der alle Gerätschaft aus lebendiger Materie besteht. Er bekennt sich zum Fortschritt in den Wissenschaften und mahnt deren vorsichtige und friedliche Nutzung an, um paradiesische Zustände herzustellen. Im Blick hat er den Klimawandel mit der Erderwärmung und fordert darüber hinaus zu einer Aufmerksamkeit im Umgang miteinander und aus den Erfahrungen der Zeitgeschichte heraus auf – auch, konkret, in seinen Werken und Aktionen. So hat er 2015 an zehn aufeinander folgenden Tagen kleine Objekte aus Farbtropfen zu den zerstörten Marx- und Lenin-Denkmälern in seiner Heimat Ukraine gesetzt und die Orte so mit Energie und Geschichtsbewusstsein aufgeladen. Und im Februar hat er in Kiew angesichts des bevorstehenden russischen Invasionskrieges der über 100 m hohen bewaffneten „Mutter Heimat“-Statue, die an den Sieg der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg erinnert, nackt und mit gekreuzten Armen „Zweige“ aus Acrylfarbe als spirituelle Waffe entgegengehalten.
In der Installation in Gelsenkirchen setzt er nun ein weiteres bildliches Zeichen gegen den Krieg in der Ukraine. Während sich Acrylglas rosa und durchscheinend hoch im Raum wie Blüten ausbreitet, sind auf dem Boden glänzend schwarze Formen aus Silikon und Acrylglas zusammengerafft. Sie behindern das Vorwärtskommen als „sich anhäufende Kriegsverbrechen oder Opferhaufen“, wie Aljoscha sagt: Man müsste sich „mühsam über diesen Wahnsinn hinweg hinein wagen“. Vergessen wird man all das nie mehr.
Aljoscha – Wesen für Frieden und Freiheit | bis 31.7. | Kunstverein im Kunstmuseum Gelsenkirchen | 0209 169 43 61
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