Ein Knäuel aus Gliedern unter einem Esstisch. Die Live-Kamera arbeitet sich vor in Körperwelten aus schummrigem Licht, das auf nackte Haut fällt und Schatten in den Zwischenräumen. Ist das Physical Theatre? Diese Frage, „Was ist das eigentlich?“, wird die Kunstform zumindest in Deutschland auf absehbare Zeit sicher nicht los. Zu wenig etabliert ist sie, zu wenig institutionalisiert. An der Folkwang Universität der Künste existiert der bundesweit einzige Studiengang in Physical Theatre. Studiengangsleiter Thomas Stich erklärt zur Eröffnung von Full Spin – 4. Internationales Physical Theatre Festival Essen, dass man das Festival, das noch bis zum 9. Juli läuft, unter anderem deshalb ins Leben gerufen habe, um eine andere wichtige Frage zu beantworten, die vor allem die Studierenden beschäftigt: Was mache ich eigentlich nach dem Abschluss?
Um einen Überblick zu geben, was mit der Kunstform möglich ist, holt die Universität also etablierte Künstler des Physical Theatres ins Festivalzentrum Maschinenhaus Essen – aber auch das Grillo-Theater, die Uni im Stadtteil Werden und die Schurenbachhalde sind dieses Jahr Spielorte.
Die Eröffnungsinszenierung an diesem 5. Juli gestaltet im Maschinenhaus die international renommierte Gruppe Liquid Loft um den Choreographen Chris Haring. „Deep Dish“ spielt sie sonst an wesentlich größeren Orten. Das Bühnenbild besteht erstmal nur aus einem mit Gemüse, Obst und Wein reich gedeckten Esstisch. Durch die vom Performer Luke Baio geführte Live-Kamera, deren Bilder auf eine riesige Videowand projiziert werden, wird er jedoch zu einer ganzen Welt – oder sogar vielen verschiedenen Welten unterschiedlichen Charakters, die durch die trickreiche Verschiebung des Mikrokosmos zum Makrokosmos der großen Bildfläche entstehen.

Fast schmerzhaft brutal oder obszön wirken da auf einmal Bilder einer Tomate, die von einer Performerin zerschnitten und gegessen wird. Ein Salat wird zum unüberschaubaren Terrain aus Schluchten, Hängen und Höhlen. Und selten hat man so einen starken Eindruck des Verfalls gespürt wie bei der Kamerafahrt über verschimmelte Früchte. Drei Performerinnen spielen in diesem Setting eine Abendgesellschaft zwischen religiös aufgeladener Abendmahls-Szenerie und belanglosem Partygeplapper. Ihre Choreographie beeindruckt besonders, wenn sie sich plötzlich im Zeitraffer bewegen oder sich durch ein modernes Bewegungsrepertoire zum Körperknäuel unter den Tisch arbeiten.
Doch um zur Eingangsfrage zurückzukehren: Warum ist das Physical Theatre? Man könnte das Stück genauso als performatives Theater, als Objekt- oder Tanztheater bezeichnen, im Programm von zum Beispiel PACT Zollverein würde es nicht auffallen. Diese Feststellung trifft auf viele weitere Stücke im Festivalprogramm zu: Sabine Molenaar, die „That’s It“ aufführt, vertritt das Moderne Tanztheater, Duda Paiva („Blind“) ist sehr etabliert in der Figurentheater-Szene, Florian Feisel („Puppen sterben besser“) lehrt es sogar als Professor in Stuttgart. Was man an anderen Theaterhäusern eher nicht zu sehen bekommt, sind Stücke, die in Richtung Neuer Circus oder Slapstick gehen wie Jakop Ahlboms „Lebensraum“, das im Grillo-Theater aufgeführt wird.
Trotzdem lehrt das Full Spin Festival einmal mehr, dass man sich im Theaterbetrieb von allzu kleinteiligen Genre-Begriffen vielleicht besser verabschieden sollte. Heutige Künstler denken sowieso grenzenlos.
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