Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
22 23 24 25 26 27 28
29 30 1 2 3 4 5

12.560 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

Anstoßen in der Erdbeerschlucht: Die Gruppe Liquid Loft spielt „Deep Dish“
Foto: Max Florian Kühlem

Schluchten verschimmelter Früchte

06. Juli 2017

Liquid Loft eröffnet mit „Deep Dish“ das 4. Full Spin Festival in Essen – Bühne 07/17

Ein Knäuel aus Gliedern unter einem Esstisch. Die Live-Kamera arbeitet sich vor in Körperwelten aus schummrigem Licht, das auf nackte Haut fällt und Schatten in den Zwischenräumen. Ist das Physical Theatre? Diese Frage, „Was ist das eigentlich?“, wird die Kunstform zumindest in Deutschland auf absehbare Zeit sicher nicht los. Zu wenig etabliert ist sie, zu wenig institutionalisiert. An der Folkwang Universität der Künste existiert der bundesweit einzige Studiengang in Physical Theatre. Studiengangsleiter Thomas Stich erklärt zur Eröffnung von Full Spin – 4. Internationales Physical Theatre Festival Essen, dass man das Festival, das noch bis zum 9. Juli läuft, unter anderem deshalb ins Leben gerufen habe, um eine andere wichtige Frage zu beantworten, die vor allem die Studierenden beschäftigt: Was mache ich eigentlich nach dem Abschluss?

Um einen Überblick zu geben, was mit der Kunstform möglich ist, holt die Universität also etablierte Künstler des Physical Theatres ins Festivalzentrum Maschinenhaus Essen – aber auch das Grillo-Theater, die Uni im Stadtteil Werden und die Schurenbachhalde sind dieses Jahr Spielorte.

Die Eröffnungsinszenierung an diesem 5. Juli gestaltet im Maschinenhaus die international renommierte Gruppe Liquid Loft um den Choreographen Chris Haring. „Deep Dish“ spielt sie sonst an wesentlich größeren Orten. Das Bühnenbild besteht erstmal nur aus einem mit Gemüse, Obst und Wein reich gedeckten Esstisch. Durch die vom Performer Luke Baio geführte Live-Kamera, deren Bilder auf eine riesige Videowand projiziert werden, wird er jedoch zu einer ganzen Welt – oder sogar vielen verschiedenen Welten unterschiedlichen Charakters, die durch die trickreiche Verschiebung des Mikrokosmos zum Makrokosmos der großen Bildfläche entstehen.

Gebührende Eröffnung: Chris Harings farbenfrohe Inszenierung, Foto: Max Florian Kühlem

Fast schmerzhaft brutal oder obszön wirken da auf einmal Bilder einer Tomate, die von einer Performerin zerschnitten und gegessen wird. Ein Salat wird zum unüberschaubaren Terrain aus Schluchten, Hängen und Höhlen. Und selten hat man so einen starken Eindruck des Verfalls gespürt wie bei der Kamerafahrt über verschimmelte Früchte. Drei Performerinnen spielen in diesem Setting eine Abendgesellschaft zwischen religiös aufgeladener Abendmahls-Szenerie und belanglosem Partygeplapper. Ihre Choreographie beeindruckt besonders, wenn sie sich plötzlich im Zeitraffer bewegen oder sich durch ein modernes Bewegungsrepertoire zum Körperknäuel unter den Tisch arbeiten.

Doch um zur Eingangsfrage zurückzukehren: Warum ist das Physical Theatre? Man könnte das Stück genauso als performatives Theater, als Objekt- oder Tanztheater bezeichnen, im Programm von zum Beispiel PACT Zollverein würde es nicht auffallen. Diese Feststellung trifft auf viele weitere Stücke im Festivalprogramm zu: Sabine Molenaar, die „That’s It“ aufführt, vertritt das Moderne Tanztheater, Duda Paiva („Blind“) ist sehr etabliert in der Figurentheater-Szene, Florian Feisel („Puppen sterben besser“) lehrt es sogar als Professor in Stuttgart. Was man an anderen Theaterhäusern eher nicht zu sehen bekommt, sind Stücke, die in Richtung Neuer Circus oder Slapstick gehen wie Jakop Ahlboms „Lebensraum“, das im Grillo-Theater aufgeführt wird.

Trotzdem lehrt das Full Spin Festival einmal mehr, dass man sich im Theaterbetrieb von allzu kleinteiligen Genre-Begriffen vielleicht besser verabschieden sollte. Heutige Künstler denken sowieso grenzenlos.

Max Florian Kühlem

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Arthur der Große

Lesen Sie dazu auch:

Trainingsraum für Begegnungen
„Nah“ im Maschinenraum Essen – Tanz an der Ruhr 11/23

Störung im System
„Dysfunktionieren“ im Maschinenhaus Essen

Wider das Mechanistische
„LandScaping 0.1“ im Maschinenhaus in Essen – Bühne 02/21

Krank durch Geschlechterklischees
Performerin Saskia Ruskat im Maschinenhaus Essen – Festival 09/20

Unter dem Meer
„Mermaid“ im Maschinenhaus Essen – Bühne 04/20

Der letzte Sturm im Schuhkarton
Live-Katastrophenfilm-Performance in Essen – Bühne 01/20

Es geht immer ums Überleben
Das neue Jahr im Essener Maschinenhaus – Bühne 12/19

All That Jazz
PENG Festival im Maschinenhaus Essen – Musik 10/19

Sentimentale Krähe, böse Zahnfee
„Short Cuts“ der Folkwang-Studierenden bei Full Spin in Essen – Bühne 07/19

Let’s get physical
Internationales Physical Theatre „Full Spin“ in Essen – Bühne 06/19

Knalleffekt
3. PENG Festival in Essen – das Besondere 10/18

Let’s Fetz!
„Physical Fetz Nr.1“ – Festival des Physical Theatre Netzwerks. 13./14.4. im Maschinenhaus in Essen – Bühne 04/18

Bühne.

Hier erscheint die Aufforderung!