Es erscheint fast surrealistisch, wie sich dieser Pferdekopf zum Sterbebett neigt, inmitten von Kabeln und Schläuchen in einer Klinik. Denn die Avantgarden um Breton, Max Ernst und Co. verpflanzten bekanntlich gerne Tiere in die moderne Infrastruktur. Um zu irritieren oder zu provozieren. Doch diese Fotografie entspricht der Realität, gemacht von Jérémy Lempin. Der Franzose dokumentierte, wie Marion, eine 24-jährige Palliativpatientin, im Bett liegt und ihren Sohn umarmt. Während Peyo, ein Pferd, tiertherapeutisch assistiert und die Lippen zu den dünnen Armen bewegt.
Jérémy Lempins Darstellung der Tiertherapie ist eines von über 150 Motiven in der „World Press Photo“-Ausstellung. Gezeigt werden jene Bilder, die die World Press Photo Foundation in einem internationalen Wettbewerb als die besten Pressefotografien aus dem vergangenen Jahr auszeichnete.
Pferd am Sterbebett
Ein Großteil der Fotografien hat nachrichtlichen Bezug, als Momentaufnahmen politischer oder gesellschaftlicher Ereignisse. Da fällt eine Reportage wie die von Jérémy Lempin über die Tiertherapie fast heraus, es ist ein Motiv der Heilung inmitten von Bildern der Zerstörung. Denn die Fotografen schleppten natürlich auch im letzten Jahr ihre Kameras an Orte, wo Krisen wüteten, wo komplexe Zusammenhänge zuweilen zu ikonischen Bildern verdichtet werden.
Dazu zählt „Die erste Umarmung“ von Mads Nissen. Der Däne fotografierte in Brasilien jenen Moment, in dem die Krankenpflegerin Adriana Silva da Costa die 85-jährige Rosa Luzia Lunardi umarmt – zum ersten Mal nach fünf Monaten hartem Lockdown. Mads Nissens „Weltpressefoto 2021“ symbolisiert die Isolation und Einsamkeit der Covid19-Pandemie.
Eine Fotografie von Ralph Pace zeigt eine FFP2-Maske, die durchs Meer treibt. Ein Seelöwe schwimmt auf den Stoffmüll zu. In Paces Fotos verschiebt sich die Maske, als Motive der Pandemie, zu einem der Naturverschmutzung. Die Zerstörung der Erde sowie die zahlreichen Naturkatastrophen sind in dieser Ausstellung allgegenwärtig. Nuno André Ferreira fotografierte in Portugal einen PKW, der ein Baby beherbergt. Im Hintergrund lodern die Waldbrände, auch hierin steckt Symbolkraft: Die Folgen des Klimawandels sind längst in Europa angekommen und die Kleinsten liegen im Auto, einem Wahrzeichen des westlichen Wohlstands-Anthropozäns.
Pandemie und Naturzerstörung
Zudem lockten zahlreiche politische Konflikte die Fotografen an Brennpunkte. Antonio Faccilongo dokumentiert das umstrittene Handeln Israels in Palästina. Seine Fotogeschichte „Habibi“ inszeniert die verwaisten Wohnzimmer oder die leeren Sessel von palästinensischen Gefangenen, die in Gefängnissen ausharren; 4.200 von ihnen sitzen teilweise über 20 Jahre in Sicherungshaft. „Habibi“, zu deutsch „meine Liebe“, widmet sich dem Trennungsschmerz der Betroffenen, die durch die Inhaftierungen von ihren Familien getrennt sind.
Eingefangen sind natürlich auch die Momente der antirassistischen Proteste in den USA, die der brutale Mord an George Floyd veranlasste. John Minchillos Foto zeigte brennende Fast-Food-Ketten und Menschen, die ihre Fäuste in den Himmel recken. Bei den Protesten kam es zu einer Szene, in der eine „Black Lives Matter“-Aktivistin die Augen verdreht, während ein älterer, weißer Mann auf sie einredet. Er wirkt wütend. Was er sagt, ist nicht bekannt. Aber dieses Foto von Evelyn Hockstein fängt die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft ein.
World Press Photo | bis 17.10., So-Do 11-20 Uhr, Fr+Sa 11-22 Uhr | Depot Dortmund
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