Es ist vorbei. Von Hegel bis Fukuyama wagten Philosophen, das Ende der Geschichten herauszuposaunen. Bis sich immer wieder herausstelle, dass das diagnostizierte Ende selbst hinfällig erscheint. Jacques Derrida kommentierte diese Krux in einem Spätwerk über Karl Marx schließlich so: „Nach dem Ende der Geschichte kehrt der Geist als Revenant zurück; er stellt gleichzeitig einen Toten dar, der wiederkehrt, und ein Gespenst, dessen erwartete Wiederkehr sich immer aufs neue wiederholt.“
Diese Wiederkehr inszeniert Ursina Tossi in ihrer Choreografie „Revenants“, die – uraufgeführt bei Kampnagel in Hamburg – im Rahmen des Favoriten Festivals zu sehen ist. Sechs Performerinnen sind es, die die Gespenster der Geschichte erwecken, als Heimsuchung der patriarchalen und kapitalistischen Macht. Denn in der bekanntlich von den Siegern verfassten Historie finden die Unterdrückten keine Repräsentation.
So ist es vor allem eine feministische Perspektive, die Ursina Tossi in „Revenants“ eröffnet. Und zwar sehr körperbetont: Die Choreografin hetzt ihre Tänzerinnen durch Stroboskoplicht, dirigiert sie zu komponierten Tableau Vivants oder lässt sie Laute ausstoßen: lachen, seufzen, keuchen – allesamt Motive, die aus Tossis Performance „Witches“ bekannt sind, welche bereits 2020 in der letzten Favoriten-Ausgabe zu sehen war.
Mit dieser Bühnenadaption von Silvia Federicis Buch „Caliban und die Hexe“ über den Zusammenhang von Inquisition und Marx‘ Theorie der ursprünglichen Akkumulation bewies Tossi bereits, dass sie es versteht, abstrakte Themen in starke Choreografien zu übersetzen. Ging es in „Witches“ um die Hexenverfolgung, die Ausbeutung durch unbezahlte, reproduktive Arbeit und die Disziplinierung weiblicher Körper, so beleuchtet Tossi in „Revenants“ gleich mehrere Kapitel der Geschichte.
Ausgangspunkt ist dabei auch der Einbruch der Geschichte in eine krisengeschüttelte Gegenwart: Krieg, Pandemie und Klimakollaps – Tossi befragt vor diesem Hintergrund die vergessenen Kapitel der Geschichte: Ihre Wiedergänger:innen spuken als Vergessene, die eine emanzipatorische Politik des Gedächtnisses auf der Bühne beschwören. Denn die Sieger kennen keine Gespenster – noch nicht mal mehr ein Ende der Geschichte.
„Revenants“ | Do 15.9. 21 Uhr | Depot Dortmund | www.favoriten-festival.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Lustvolle Inspirationsquelle
Das Circus Dance Festival 2025 in Köln – Tanz in NRW 06/25
Tanz als Protest
„Borda“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 06/25
Lässiger Spott
„Ophelia‘s Got Talent“ am Schauspiel Köln – Tanz in NRW 05/25
Plötzlich und heftig
Das Land NRW kappt Säulen der Tanzförderung – Tanz in NRW 04/25
Baum der Heilung
„Umuko“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 03/25
Tanz der Generationen
„Kaleidoskop des Lebens“ von Choreografin Suheyla Ferwer – Tanz in NRW 03/25
Überraschungen vorprogrammiert
Das Urbäng Festival 2025 in Köln – Tanz in NRW 02/25
Wenn KI choreografiert
„Human in the loop“ am Düsseldorfer Tanzhaus NRW – Tanz an der Ruhr 01/25
Tanzen, auch mit Prothese
Inklusive Tanzausbildung von Gerda König und Gitta Roser – Tanz in NRW 01/25
Die Erfolgsgarantin
Hanna Koller kuratiert die Tanzgastspiele für Oper und Schauspiel – Tanz in NRW 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
„Das Publikum ist verjüngt und vielfältig“
Opernintendant Heribert Germeshausen zum Wagner-Kosmos in Dortmund – Interview 06/25
„Da werden auch die großen Fragen der Welt gestellt“
Kirstin Hess vom Jungen Schauspiel Düsseldorf über das 41. Westwind Festival – Premiere 06/25
Morgenröte hinter KI-Clouds
Das Impulse Festival 2025 in Mülheim, Köln und Düsseldorf – Prolog 05/25
Das Vermächtnis bewahren
Eröffnung des Bochumer Fritz Bauer Forums – Bühne 05/25
Rock mit Käfern, Spiel mit Reifen
41. Westwind Festival in Düsseldorf – Festival 05/25
Von und für Kinder
„Peter Pan“ am Theater Hagen – Prolog 05/25
„Der Zweifel als politische Waffe“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Premiere 05/25
Entmännlichung und Entfremdung
Festival Tanz NRW 2025 in Essen und anderen Städten – Tanz an der Ruhr 05/25
Von innerer Ruhe bis Endzeitstimmung
Die 50. Mülheimer Theatertagen – Prolog 04/25
Jenseits des männlichen Blicks
„Mother&Daughters“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 04/25
Gegen den ewigen Zweifel
Die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Prolog 04/25
„Kunst hat keine Farbe, Kunst ist Kunst“
Isabelle und Fabrice Tenembot vom Verein Afrikultur über das 4. Mboa-Festival in Dortmund – Interview 04/25