Nun sollte man doch denken, dass man eher Bewegung braucht in der Adventszeit oder nach den kulinarischen Weihnachtsexzessen. Aber nicht nur der malträtierte Magen-Darm-Trakt braucht ein wenig Abwechslung an frischer Luft, auch die durch Glühweinnebel und Bratenduft verklebten Gehirnwindungen sollten ein wenig durchgepustet werden. trailer empfiehlt vor dem Fest etwas Zeitgenössisches in Bochum, quasi um dem aberwitzigen geistigen Druck des Festlichen standhalten zu können und zwischen den Feiertagen, weit genug vor der Sylvester-Orgie, etwas Beziehungsreiches für Brot und Böller und was zum Amüsieren als Abspann fürs Christkind.
In der Bochumer Kammer inszeniert Intendant Anselm Weber „Es wird einmal“ von Martin Heckmanns als Uraufführung. Am Anfang ist dort die Bühne leer. Nichts ist verheißungsvoller als der leere Raum, angefüllt mit den Theatergespenstern der Vergangenheit und den Hoffnungen auf künftige Vorstellungen. Nun stehen da aber zwei Männer, die nicht recht wissen, zu was sie gebeten sind. Sie heißen Hermann Schwinder und Martin Neumann – der eine ein Schauspieler der alten Schule, der jüngere ist eher Performer. Sie warten auf den Regisseur, dem sie vorsprechen sollen, aber genauso gut könnten sie auf Gott warten oder auf Godot. Statt durch den großen Obermann werden sie durch seine Assistentin und deren Hospitantin empfangen. Während sie sich noch fragen, wann es anfängt, sind sie schon mitten drin im Spiel, die Welt um sie herum belebt sich mit den großen und kleinen Geschichten des Lebens. Martin Heckmanns, einer der renommiertesten Theaterautoren seiner Generation, zitiert die Tradition des Jedermann und des großen Welttheaters und konfrontiert sie mit gegenwärtigen Formen der Lebens- und Sterbekunst. Vielleicht wird es ja ein Heiliger Abend.
Wenn sie den im wirklichen Leben überlebt haben und sie schon an überdimensionierte Raketenwerfer denken, um endlich die Nachbarn beim Jahreswechsel mal auszustechen, dann kaufen sie sich erst einmal eine Karte für „Der Geizige“ von Molière in Essen. Die Stückinfo sagt: Diese 1668 uraufgeführte Komödie war schon zu Molières Lebzeiten ein Plädoyer gegen materialistischen Wahn. Harpagon, der sich in seiner bedingungslosen Liebe zum Geld von Gesellschaft, Familie und sich selbst so dermaßen entfremdet, dass er bedrohliche Züge annimmt, ist kein Relikt längst vergangener, barocker Zeiten. Wäre “Der Geizige” heutzutage geschrieben worden, würde er sich nahtlos in die Flut kapitalismuskritischer Publikationen einreihen, die der Zeitgeist angesichts europaweiter Finanzkrisen derzeit auf den Markt bringt. Recht so. Dem ist nun wahrlich nichts hinzuzufügen. Regisseur Jasper Brandis wurde 1971 in New York City geboren und studierte zunächst Jura in Hamburg, bevor er 1996 als Regieassistent am Deutschen Schauspielhaus Hamburg engagiert wurde. Seit 1999 ist er als freier Regisseur tätig und inszeniert quer durch den deutschsprachigen Raum. Am Schauspiel Essen inszenierte er in der vergangenen Spielzeit Werner Schwabs „Die Präsidentinnen” und der Abend war wirklich sehenswert.
„Der Geizige“ | So 29.12., 19 Uhr (Premiere) | Theater Essen | 0201 812 26 00
„Es wird einmal“ | Sa 14.12, 19:30 Uhr (Premiere) | Kammerspiele Bochum | 0234 33 33 55 55
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