Acht Milliarden, nein, über acht Milliarden. Die Spezies Mensch bevölkert die festen Massen des Planeten. Wo kommen die alle her? Vom Klapperstorch? Die finnische Dramatikerin und Regisseurin Saara Turunen geht dieser Frage anhand eines fast absurden Szenarios in den Bochumer Kammerspielen nach. Das surreale Setting: Drei Frauen. Zwei Männer. Ein Ei. Ein Storch. Ein Raum. Darin expandiert ein assoziativer Kosmos über die andauernde Fremdheit biologischer Tatbestände, über das tradierte Rollenverständnis und über die Selbstbestimmung der Geschlechter.
So lange ist es noch nicht her, dass die althergebrachten Traditionen den Kindern die wundersame Vermehrung der Menschen durch Störche in der Nacht erklärten, dass herbeigeredete Engel und Teufel in den Köpfen der Heranwachsenden ihr Unwesen trieben. Saara Turunens gesellschaftliche Perspektiven auf den Frauenkörper und, wie sie in der Ankündigung der deutschsprachigen Erstaufführung von „Früchte der Vernunft“ behauptet, auch auf „ihr eigenes biografisches Erleben“ ergeben in humorvollen Episoden eine sinnliche Form der Auseinandersetzung um Fruchtbarkeit und Kinderlosigkeit, aber auch um Vernunft versus Lust in einem ziemlich komprimierten Laboratorium mit einem die Absurdität steigernden nimmersatten Klappschnabel. Darin arbeitet die preisgekrönte Finnin wie immer mit sparsam eingesetzter Sprache und erzeugt dennoch ihre seltsamen Bilder aus einer scheinbar eigenen Welt.
Darin taucht immer diese junge Angestellte auf, die sich überall und scheinbar von allen mit der Kinderfrage konfrontiert sieht, auch deshalb hat sie wohl immer ein Ei dabei. Trotz des andauernden Gruppenzwangs hat sie anscheinend nichts gemein mit der alttestamentarischen Hanna, die keine Kinder bekommen kann oder mit der Frau, die heimlich Pornos schaut und nicht weiß wohin mit dem Baby. Die Kernfrage bleibt, ob von Frauen nicht qua Geschlecht erwartet wird, dass sie ihren Körper verleugnen und gleichzeitig feiern. Und was die zwei Männer im Stück beizutragen haben, wird die Premiere am 1. September zeigen, an dem meteorologisch der Herbst beginnt und die Störche langsam nach Afrika abfliegen, aber das muss ja nichts heißen.
Früchte der Vernunft | Fr. 1.9. 19.30 Uhr (P) | Kammerspiele Bochum | 0234 33 33 55 55
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