trailer: Herr Hilterhaus, wie kam es dazu, dass Sie sich als Bündnis internationaler Produktionshäuser in der Publikation „Producing Performing Arts. Aus dem Maschinenraum der freien darstellenden Künste“ so intensiv mit den künstlerischen Produktionsformen der Gegenwart auseinandergesetzt haben?
Stefan Hilterhaus: In dem Buch beleuchten wir einen zentralen Arbeitsbereich in der unabhängigen performativen Kunst. Diese ist in den letzten Jahrzehnten formatreicher, thematisch vielfältiger, und international verknüpfter geworden. Nach den Künstler:innen sind vor allem auch die Produzent:innen für das Gelingen dieser Wandlungen essentiell wichtig. Da ist ein ganz neues Berufsbild entstanden, in dem kreative Expertisen unter anderem in Organisation, Dramaturgie, Verwaltung und Recherche notwendig sind. Die von uns initiierte Akademie und das Buch beleuchten unter anderem den Umgang mit sozialen Situationen, vielen Formaten, besonderen Räumen und Orten sowie Organisationsformen, auch weil es dafür keine Ausbildung gibt.
Im Buch tauchen Begriffe wie das Produzieren oder der Maschinenraum auf, die aus der Arbeitswelt oder der Industrie stammen. Warum haben Sie dieses Vokabular entlehnt?
Bei uns wird ja viel gearbeitet und produziert. Wir sind Produktionsstätten für zunächst nichtmaterielle Güter. Wertvolle Güter, die uns Verbindungen, Erlebnisse, Erkenntnisse und Perspektivwechsel ermöglichen, aber die auch Räume für Verhandlungen, Konflikte, Heilung, Widersprüche und Beteiligung bereitstellen. Wir produzieren damit auch Grundlagen für den Umgang mit Veränderungen, für gemeinsame Werte, soziale Verabredungen und Demokratie.
Bereits im Vorwort wird erwähnt, dass eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Produzierens besteht. Wie kann ich mir das konkret beim PACT Zollverein vorstellen?
Die freie Szene hat sich zunehmend dahin entwickelt, dass die Künstler:innen auch Wissensproduzent:innen oder Praxisentwickler sind. Wir haben hier bei PACT mit der WerkStadt etwa einen Raum im Stadtviertel, wo viele Momente aus der künstlerischen Praxis im sozialen Raum überraschende Alternativen bereitstellen. Genauso verändert diese Erfahrung im Stadtraum unsere künstlerische Arbeit. Die disziplinären Grenzen verschwimmen. Diese Herangehensweise ermöglicht also viel Engagement und Partizipation. Dafür sind wir erstmal gar nicht aufgestellt, das heißt, wir müssen die Logik, die Bewertung und die häufig projektorientierte Finanzierungsform dieser Orte auch erweitern. Dabei gilt es auch, die Prozesse und die Praxen der Kunst als einen eigenen Wert zu entwickeln. Unsere Häuser haben enorme Potentiale als öffentliche Orte der Verhandlung des Sozialen, als Orte der Interaktion, indem wir neu über die Verteilung von Ressourcen, über Werte und Repräsentanz nachdenken müssen.
Unter der Überschrift „Sind wir eine Fabrik?“ diskutieren Sie solche politischen Fragen auch mit Amelie Deufhard, der Intendantin von Kampnagel Hamburg. Unter anderem geht es um die Prekarität von Künstler:innen. Wie sehr ist die freie Szene davon betroffen?
Es betrifft die freie Szene sehr stark. Denn die Künstler:innen sind abhängig von einem System, das hauptsächlich temporär und projektorientiert entscheidet – und damit auch, ob Künstler:innen die nächsten Monate arbeiten können. Es bestehen also sehr starke Abhängigkeitsverhältnisse, die schnell in die Prekarisierung führen und zudem Expert:innen mit langjähriger Praxiserfahrung und Wissen betreffen. Sie müssen sich von einem zum nächsten Projekt durchhangeln. Es gibt also nach wie vor viele Künstlerbiografien am Existenzminimum und das verhindert stabile, selbstbestimmte Arbeitskontexte.
Wie wirkt man dem entgegen?
Unter anderem haben viele damit angefangen, Projekte, bzw. Vorhaben über mehrere Jahre anzulegen. Das ist schon mal ein Beginn. Nicht zuletzt durch die Corona-Hilfen haben wir gelernt, wie eine neue andere vielschichtige Förderung starke Ergebnisse und Prozesse in Gang setzt. Die soziale Frage ist die zunächst große Herausforderung, um gesellschaftliche Stabilität aufrechtzuhalten. Verlieren wir diese, ist die Rechnung am Ende unbezahlbar. Deswegen ist die Investition in ein starkes soziales Netz und damit in die Demokratie so wichtig, egal, ob unter dem Namen Grundeinkommen oder Grundsicherung.
Katrin Dod und Patrick Wildermann (Hg.): Producing Performing Arts. Aus dem Maschinenraum der freien darstellenden Künste | Alexander Verlag | 176 Seiten | 15€
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