900 Pakete, 28 Sekunden pro Stück, das ist die Quote, die ein Paketzulieferer auf der Bühne stolz aufzählt. Was er jedoch nicht beantworten kann: Was ist da drin? Von wem wird all das Zeug bestellt? Wer sind diese ganzen Rentner, Hausfrauen oder Kinder an der Tür? Und warum bestellen sie so viele Pakete? Schreibt denn keiner mehr Briefe?
Fragen über Fragen. Das war der Ausgangspunkt des Projekts „SEINS.fiction“. Mit Fragebogen für Jugendliche wollte das Theaterkollektiv TOBOSO ermitteln wie diese über sich selbst, über die Gesellschaft oder die politische Situation nachdenken. Das Ergebnis: Das Klischee von einer politikverdrossenen „Generation Smartphone“, die sich in den Sozialen Medien verliert und von der Welt da draußen wenig wahr haben will, stimmt so nicht. Denn Ängste, Wünsche oder Hoffnungen angesichts einer unübersichtlichen Gegenwart und unsicheren Zukunft spielen bei Jugendlichen eine große Rolle. Das verraten zumindest ihre Aussagen in der Umfrage. Sie waren die Grundlage für die Entwicklung des Stücks „SEINS.fiction“.
Nur Konsum, virtuelle Realität und kaum Interesse für die Welt da draußen? Dieser Mythos fällt bereits zu Beginn auf der Bühne des Essener Maschinenhauses wie ein Kartenhaus in sich zusammen. In Form eines Backsteinhauses, an das der besagte Paketzusteller klingelt. Doch es macht rumms. Und hinter der Fassade: Eine Gestalt in Vogelmaske und drei Bewohner, die fernsehgucken, Zeitung lesen, Staubsaugen. Allzu Alltägliches.
Aber dass sie sich jetzt allesamt unter blauen Himmel befinden, den der Hintergrund auf der Bühne illustriert, ist der Auftakt für wilde Wortwechsel und Assoziationen. Über Fakten, wichtige, unwichtige, alternative. Über lose Rechtspopulismus-Diskurs-Fetzen. Oder über konkrete Utopien, die sich stellen, wenn es gemeinsam an den Wiederaufbau des Hauses geht: eine Leinwand, eine Bar oder besser Meerschweinchen-Zucht? „Herzlich Willkommen im Paradies!“
Aus den Fragebogen-Ergebnissen rekonstruieren sie bei TOBOSO eine ungestüme Inszenierung. Spätestens wenn eine der AkteurInnen ihr Glück gesteht, neben anderen sitzen zu können, wird klar, es geht um gesellschaftliche Anliegen, um Geselligkeit. Von Konsum und Individualismus keine Spur.
„Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.“ So lautet eine der Weisheiten, gepflügt aus Glückskeksen in einer der Versandpackungen. Das trifft auch auf das verspielte wie unbekümmerte Stück zu, in der sich schließlich alle Vogelmasken überziehen. Vier Vögel und das Sein. Und die kühnen Erwartungen Jugendlicher an dieses. Verpackt als unterhaltsamer Theaterabend.
Die nächsten Vorstellungen sind am 26. und 27.2. im Theater Duisburg
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