„Garantiert oberhalb der Gürtellinie“ – so bewirbt Jens Neutag sein aktuelles Programm. Damit lädt der Kabarettist schon von vornherein bestimmte Gesellschaftsgruppen in sein Publikum ein – und andere Zielgruppen aus. Im Endeffekt trat Neutag am 6. Februar vor einem Publikum mittleren Alters im Bahnhof Langendreer auf und präsentierte sein Programm „Das Deutschland-Syndrom“.
Der Deutsche bietet einen großen Fundus an Kuriositäten, Witzigem und unverständlichen Dingen, die sich für den einen oder anderen Witz auf Kosten des Otto Normalverbrauchers eignen. Neutag bedient sich für seine aktuelle Tour ebenfalls dieses Vorrates und verteilt nun großzügig Aufreger und Sprüche im Zeichen seiner Tour. Denn die Launen des Deutschen fasst er in dem für sein Programm namengebenden „Deutschland-Syndrom“ zusammen. Dieses umfasst unter anderem notorisches Bemäkeln von Politik und Popkultur und das deutsche Verständnis von Engagement für das Durchsetzen der eigenen Meinung: das Unterschreiben von Onlinepetitionen.
Durch die Bemühung um jugendfreie Gags drängte sich im Laufe des Programmes immer mehr die Frage auf, ob ein paar anzügliche Witze der Atmosphäre nicht gutgetan hätten. Denn zwischen zwei Lachern verging oft die eine oder andere Durststrecke, die auch das Schmunzeln über die Identifizierung mit dem beschriebenen Durchschnittsbürger nicht beenden konnte. Dabei ging Neutag mit den schwierigen Publikumsreaktionen gelassen um; als die Forderung einer Petition gegen Helene Fischer verhaltene Reaktionen hervorrief, äußerte er ernsthafte Bedenken zum Zustand unserer Gesellschaft und hatte die Zuschauer damit dann doch auf seiner Seite.
Neutags Opfer wurden neben dem Durchschnittsbürger auch namhafte Personen wie die deutschen Bundeskanzler der letzten Jahrzehnte. Dabei scherzte er vor allem über die Politik vor der Wende und festigte dadurch seine Zielgruppe. Von seinem Kindheitstrauma im Hallenbad kam er dann wieder zurück auf den Deutschen und sein Syndrom. Jens Neutag thematisierte dabei bevorzugt die bürokratischen Eigenheiten des Landes und wählte somit einen sicheren Schwerpunkt. Das Problem dabei: Der Deutsche und sein Hang zur Bürokratie wurden inzwischen so häufig von Comedians aufs Korn genommen, dass die durchaus schlauen Pointen häufig nicht mehr als ein sympathisierendes Lächeln zur Folge hatten. Von mehr Erfolg zeugte Neutags Ausflug in Discounter und Outlets sowie die kriegsähnlichen Zustände vor Feiertagen. Neutag verwies auf die Steigerungsfolge des Wortes „Schnäppchen“: „Schnaps, Schnäppchen, Übergeschnappt.“
Mit viel Passion regte er sich über den Deutschen auf sowie darüber, wie ebenjener sich über Dinge aufzuregen pflegt. Dabei vergaß er auch die Interaktion mit dem Publikum nicht, selbst wenn dieses es ihm an diesem Abend nicht leicht machte. Ein paar Lacher mehr wären ihm gegönnt gewesen, der mit seiner entspannten Art eifrig Sympathiepunkte sammeln konnte. Dabei hätte häufig schon eine andere Betonung oder Formulierung den Pointen geholfen, und sicherlich wäre auch ein weniger abgenutzter thematischer Fokus hilfreich gewesen. Denn irgendwann verliert auch der beste Witz seine Wirkung.
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