Es mag versnobt klingen. Aber ein Philosoph wie Theodor W. Adorno behauptete im letzten Jahrhundert noch, dass Schreibende, die nicht recht den Unterschied zwischen Komma und Semikolon fühlen, ebenso wenig die musikalische Form der Syntax wahrnehmen könnten. Die Diagnose erscheint natürlich weit entrückt von der Realität des gegenwärtigen Literaturmarkts. Denn in den heutigen Creative-Writing-Kasernen werden die Nachwuchsautor:innen nicht mehr auf ornamental verschnörkelte Prosa gedrillt.
Wie rhythmisch und musikalisch so ein Klassiker der Literatur klingen kann, destilliert Barbara Frey mit „Die Toten“, die Adaption einer James Joyce-Vorlage. Die neue Intendantin der Ruhrtriennale integrierte ihre Züricher Inszenierung von 2019 in das Programm des diesjährigen Kunstfestivals. Dafür taucht sie die Bochumer Jahrhunderthalle in eine düstere Trauerstimmung. Die Drehbühne rotiert im Laufes des knapp zweistündigen Abends immer wieder, eröffnet den Flur, das Musizier- und Esszimmer; doch es bleibt bei den grau-schwarzen Wänden, die sich dahinter erheben, mehr Mausoleum statt wohnliches Interieur (Bühnenbild: Martin Zehetgruber).
Eher Mausoleum statt Wohnung
Davor tappen sechs Schauspieler in schwarzen Wracks. Und sie erweisen sich als hochmusikalische Klangkünstler, wenn sie Volkslieder anstimmen, von Thomas Moores „Silent O'Moyle“ bis zu Leonard Cohens Popballade „Take this Waltz“ oder auf dem Klavier Bach und andere Interpreten spielen.
Anlass des Zusammenkommens in Joyce' „Die Toten“ ist eine alljährliche Familienfeier seiner Tante, zu der Gabriel Conroy (Michael Martens) mit seiner Frau Gretta (Lisa-Katrina Mayer) erscheint. Joyce komponiert diese Erzählung aus dem Zyklus „Dubliner“ als Konversationsklippen aus inneren Monologen und gescheiteren Verständigungsversuchen – eine Blaupause für seine späteren Werke „Ulysses“ und „Finnegans Wake“, die in Freys Inszenierung ebenso aufgegriffen werden. Dazu zählt auch der Moment, in der Gabriel von seiner Frau erfährt, dass sie als junges Mädchen einen anderen Mann liebte, was in heutigen Ohren wie Kitsch aus einer längst vergangenen, monogam-melodramatischen Welt klingt, Gabriel jedoch dämmern lässt, wie fremd ihm seine Frau geblieben ist.
Existenzielle Weihe verleiht Joyce dieser Passage dadurch, dass Grettas Jugendliebe todkrank war, sie jedoch noch einmal sehen wollte und letztendlich an den Folgen dieses Ausflugs starb. Die Toten dämonisieren die Lebenden, auch Gabriel, der sich in Trauer verliert. Deswegen darf Claudius Körber, der auf der Bühne die Gedankenwelten von Gabriel erzählt, einen von vielen schmucken Jocye-Sätzen rezitieren: „Seine Seele hatte sich jener Region genähert, wo die unermesslichen Heerscharen der Toten ihre Wohnung haben."
Musikalität der Literatur
Überhaupt wird auf der Bühne viel über den Tod philosophiert, entweder metaphysisch, wenn über das Weiterleben der Zellen spekuliert wird. Oder materialistisch, wenn es um Maden im Grab geht. Das Aufeinandertreffen der Toten auf die Lebenden dirigiert Frey vor allem als Resonanzraum, in dem sich Musik, Klang und Rhythmus mit Joyce Prosa durchdringen. Die Schauspieler singen, alleine oder im Chor, bis Sprache und Gesang zu einem Sprechgesangs-Sampling verschmelzen. Das klingt teilweise so harmonisch, dass sich tatsächlich die Musikalität der Literatur herausschält und die Joyce-Syntax majestätisch in der Jahrhunderthalle stolziert. Ohne dabei den politischen Themen wie die Gastfreundschaft oder den irischen Patriotismus, den Joiyce streift, Nachdruck zu verleihen. Das Ergebnis ist eher eine L'art pour l'art-Ästhetik mit langen Sprechgesangs-Schleifen und Roman-Rezitation, mal hochartifiziell, mal poetisch, mal schauderhaft, doch an vielen Stellen auch sehr langatmig.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Der Zweifel als politische Waffe“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Premiere 05/25
Entmännlichung und Entfremdung
Festival Tanz NRW 2025 in Essen und anderen Städten – Tanz an der Ruhr 05/25
Von innerer Ruhe bis Endzeitstimmung
Die 50. Mülheimer Theatertagen – Prolog 04/25
Jenseits des männlichen Blicks
„Mother&Daughters“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 04/25
Gegen den ewigen Zweifel
Die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Prolog 04/25
„Kunst hat keine Farbe, Kunst ist Kunst“
Isabelle und Fabrice Tenembot vom Verein Afrikultur über das 4. Mboa-Festival in Dortmund – Interview 04/25
„Der Text hat viel mit heute zu tun“
Regisseurin Felicitas Brucker über „Trommeln in der Nacht“ am Bochumer Schauspielhaus – Premiere 04/25
Das gefährliche Leben von Kindern
„Blindekuh mit dem Tod“ am Jungen Schauspiel in Düsseldorf – Prolog 03/25
Baum der Heilung
„Umuko“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 03/25
Tanzen bis zum Umfallen
46. Duisburger Akzente – Festival 03/25
Kabarett, Cochem-Style
„Zu viele Emotionen“ von Anna Piechotta in Bottrop – Bühne 03/25
Gewinnen um jeden Preis?
„Alle spielen“ im Studio des Dortmunder Theaters – Prolog 03/25
„Ich liebe die Deutungsoffenheit“
Regisseur Roland Schwab über „Parsifal“ am Essener Aalto-Theater – Interview 03/25
„Die Kraft des Buchs besteht in der Aufarbeitung“
Bettina Engelhardt inszeniert Bettina Flitners Roman „Meine Schwester“ am Essener Grillo-Theater – Premiere 03/25
Was wirklich in den Sternen steht
„Liv Strömquists Astrologie“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Prolog 02/25
Tanzende Seelen
„Dips“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 02/25
„Eine Frau, die förmlich im Leid implodiert“
Regisseurin Elisabeth Stöppler über „Lady Macbeth von Mzensk“ in Düsseldorf – Interview 02/25
Nichts für Konfirmand:innen?
„Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ in Bochum – Prolog 02/25
„Die perfekte Festung ist das perfekte Gefängnis“
Ulrich Greb inszeniert Franz Kafkas „Der Bau“ am Schlosstheater Moers – Premiere 02/25
Wenn Hören zur Qual wird
„The Listeners“ in Essen – Prolog 01/25
Zwischen Realität und Irrsinn
„Kein Plan (Kafkas Handy)“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Prolog 01/25
Wenn KI choreografiert
„Human in the loop“ am Düsseldorfer Tanzhaus NRW – Tanz an der Ruhr 01/25
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Wenn die Worte fehlen
„Null Zucker“ am Theater Dortmund – Prolog 01/25
„Ich war begeistert von ihren Klangwelten“
Regisseurin Anna-Sophie Mahler über Missy Mazzolis „The Listeners“ in Essen – Premiere 01/25