Es muss der Horror sein, dem eigenen Ich zu begegnen. „Wenn das ich bin da drüben, wer bin ich?“ Das fragt sich Bernhard, als er seinem Doppelgänger begegnet. Nicht ein-, nicht zweimal. Nein, gleich 20 Zwillingsbrüder laufen ihm über den Weg. Und sie sind alle aus dem Reagenzglas, das Ergebnis einer illegal geklonten Reihe. Das ist die Ausgangskonstellation des Erfolgsstücks der britischen Dramatikerin Caryl Churchill, das 2003 in der Übersetzung von Falk Richter seine Deutschland-Premiere in der Berliner Schaubühne feierte und seitdem ein Dauerbrenner in den deutschsprachigen Theatern blieb.
An der Rottstr5 hat sich Constanze Hörlin, Regie-Studentin an der Folkwang-Universität der Künste, dem Klon-Drama angenommen und daraus ein Konversationsstück gemacht, in dem sich Vater und Sohn ein rund einstündiges Wortgefecht leisten.
Vor schimmernden Plastikglaswänden stehen sich Vater und Sohn in grauen Jump-Suit-Joggern beim Familien-Gipfel gegenüber. Matthias Hecht sitzt als verunsicherter Vater wie auf einer Anklagebank auf einem Hocker. Denn sein Sprössling (Paul Hofmann) will die Hintergründe über seine unheimliche Begegnung mit diesen „Dingern“ erfahren. Ja, so nennt er diese Zwillingsbrüder aus dem Reagenzglas.
Unter Bedrängnis rückt der Vater raus, wie es gleich zu einer Serie seiner Nachkommenschaft kam: Von Alkoholismus und Eheproblemen faselt er da. Und Hechts Vater gerät dabei im wahrsten Sinne des Wortes ins Schwitzen. Nur konturenhaft wird die Vergangenheit wie ein Trauma umrissen. Offensichtlich ist sein erster Sohn, der Ur-Bernhard, mit fünf Jahren mit seiner Mutter bei einem Autounfall gestorben. Der Vater entschied sich für eine Neuauflage aus der Petrischale. Am Ende sind es gleich mehrere Bernhards geworden, was er damals offenbar nicht wusste. Während sein Sohn an seinem Klon-Dasein verzweifelt, beschwichtigt ihm Papi, er werde die Verantwortlichen verklagen.
Constanze Hörlin verdichtet das Churchill-Drama zu einem Zwei-Personen-Stück, in dem die Unwägbarkeiten einer Familie im Zeitalter der genetischen Reproduzierbarkeit in raschen Wortgefechten ausgetragen werden. Bis schließlich Bernhard einen Doppelgänger umbringt, ein Brudermord, den Hörlin auf der kleinen Rottstr5-Bühne als dröhnendes Lichtgewitter umsetzt. Doch es gibt mehr Klone. Und Bernhard, von der Angst vor diesem gleichen Angesicht, nicht dem Fremden umgetrieben (das ist eine interessante Fußnote, die Churchills Stück aktuell auf der Bühne eröffnet), bringt sich schließlich selbst um. Sein Vater versucht, sich mit einem anderen Produkt der Bernhard-Serie zu trösten: ein bebrillter Stahlemann-Bernhard, der Mathe-Lehrer ist und keinerlei Gemeinsamkeiten mit dem Ur-Sprössling teilt. Die Herkunft aus der Petrischale sieht er absolut gelassen. „Wir haben zu dreißig Prozent die gleichen Gene wie Salatköpfe,“, sagt er stoisch über diese Konformität durch die neue Wissenschaft. Schön ist diese Welt offenbar nicht. Das verrät das Entsetzen, das im Gesicht des großartig aufgelegten Matthias Hecht zu lesen ist.
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