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Gameshow der Redundanzen: Tim Etchells „Real Magic“ auf PACT Zollverein
Foto: Hugo Glendinning

Roulette ohne Sieger

06. Mai 2016

„Real Magic“ von Forced Entertainment vom 4.-6.5. auf PACT Zollverein – Theater Ruhr 05/16

Sechs Leuchtstoffröhren im Halbkreis, drei Stühle, ein Mikrofon, drei Pappschilder. So bescheiden ist die Bühne des PACT Zollvereins eingerichtet, wenn die drei PerformerInnen der Gruppe Forced Entertainment auftreten. Zwei Männer, eine Frau – sie heißen Jerry, Richard und Claire. Jerry greift sich das Mikrofon. Er spielt eine Art Moderator und erklärt Richard, dem „Kandidaten“, die Regeln des Spiels: Er soll erraten, an welches Wort Claire, die „Sphinx“ in dieser Konstellation, gerade jetzt denkt.

Dafür hat er drei Versuche, jedes Wort aus der englischen Sprache ist möglich. Seine Augen sind verbunden. So sieht er Claires Pappschild nicht, auf dem in großen Lettern „CARAVAN“ steht – das Wort, das sich hinter ihrer Stirn verbirgt, ist so für das Publikum sichtbar. Richards Rate-Versuche gehen alle daneben. Weder Versuch eins: „electricity“, noch Versuch zwei: „hole“, noch Versuch drei: „money“ ist die richtige Antwort. „Let's swap“ heißt es dann, und die Rollen werden getauscht. 

Nun übernimmt Claire die Rolle der Kandidatin und soll erraten, an welches Wort „Sphinx“ Jerry denkt. Auch sie versucht es mit „electricity“, „hole“ und „money“. Und wieder sind es falsche Antworten. ALGEBRA wäre die richtige Lösung gewesen, so ist es auf Jerrys Pappschild zu lesen. Let's swap again. And again. Die Spielregeln bleiben dieselben, während die PerformerInnen rotierend die Rollen besetzen. Wer aber wessen Gedanken erraten soll, und welches Wort diesmal die Lösung ist (ein drittes Pappschild bietet noch SAUSAGE zur Auswahl an), ist ziemlich schnell ziemlich egal. Noch schneller ist klar: In diesem Roulette wird niemals jemand gewinnen.

Selbst als die PerformerInnen sich schließlich das Schild mit dem richtigen Begriff gegenseitig unter die Nase halten oder einander vorsagen, werden keine anderen Wörter als „electricity“, „hole“ und „money“ in Betracht gezogen. Alles bleibt gleich, auch wenn es Variationen gibt, verändert sich nichts in den Abläufen, Fehlschlägen und Rotationen. 75 Minuten lang wird dieselbe Szene gnadenlos immer und immer wieder gespielt.

Durch Ganzkörperhühnerkostüme und Gelächter vom Band wird diese Gameshow der Redundanzen noch skurriler und schwerer einzuordnen: Um schlicht als amüsanter Unsinn durchzugehen, ist der Abend nicht lustig genug; als Zitat von Gameshows mit unlösbaren Aufgaben funktioniert er nur kurz, was am radikalen Durchexerzieren der Situation liegt, die keine Auf- oder Erlösung bietet. Dargestellte Referenzen (z.B. Rodins „Der Denker“) werden von den PerformerInnen selbst dechiffriert und rauben dem Publikum so den befreienden Aha-Moment des selber Denkens.

Den Abend als arrogantes l'art pour l'art abzutun ist möglich, wäre aber zu einfach. Der Gruppe Forced Entertainment um Tim Etchells eilt ein Ruf voraus, der das Publikum in die Pflicht nimmt, nach der Frage zu suchen, an der die Gruppe sich abgearbeitet hat.

Ein Vorschlag: Was das Publikum letztlich sieht, sind zwei Denkpositionen. Die eine ist: „Was der andere wohl denkt?“ Die andere ist: „Bloß nicht den Gedanken an dieses eine Wort verlieren, egal was um mich herum passiert.“ Denken ist hier harte Arbeit, wird nicht spielend mit links erledigt. Es gilt das Motto: Nicht schau-spielen, sondern schau-denken.

Auf der Bühne zeigen SchauspielerInnen uns oft, wie sie so tun, als hätten sie einen Gedanken zum ersten Mal, als hätten sie nicht wochenlang dafür geprobt. Dies führt Forced Entertainment ausführlich vor und gewiss mehr als ad absurdum, denn: Denken hilft, aber ist und bleibt als Vorgang nicht darstellbar. Ob dieser oder jener Inhalt tatsächlich gedacht wird, ist eine Glaubensfrage, die von den ZuschauerInnen zu beantworten ist.

„Real Magic“ von Forced Entertainment | 6.5.  20 Uhr | PACT Zollverein, Essen | www.pact-zollverein.de

Lisa Kerlin

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