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Skurriler kann die Welt selbst nicht sein
Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale 2018

Orchester-Musiker im Gänsemarsch

30. August 2018

„Universe, incomplete“ eröffnet Ruhrtriennale – Auftritt 09/18

Tief drinnen sitzt der Teufel, aber er lacht nicht mehr. Niemand lacht mehr. Nie mehr. Ein Konvolut von Welt, voller Musik, voller Aspekte, aber ohne Rhizome. Christoph Marthaler inszeniert Charles Ives‘ „Unvollendete“ in der Bochumer Jahrhunderthalle. Anna Viebrock bestückt dafür die schier endlose Fläche mit Miniaturbühnen, mit Bahngleisen und zwei Katzenbänken, die nie benutzt werden. Alles beginnt bei „Universe, incomplete“ mit Schlagwerk, über den Zuschauern thront der Dirigent, eine Passkontrolle im Nirgendwo schleust Warteschlangen zur Tribüne. Ganz hinten, ganz in der Ferne sitzt ein Menschlein, allein an einem Tisch, der Dutzenden dienen könnte. Ansonsten gähnende Leere, nur die Tonkulisse wird diffuser, verliert sich in Urgewalt, unweigerlich wartet man auf Kurt Schwitters Ursonate, doch nein, auf dem Gleis fährt der Bauwagen weg, Bläsersätze, die irgendwie aus der Neuen Welt zu kommen scheinen, man entfernt sich mit Radau. Marthaler nutzt die Unvollkommenheit des utopischen Werkes für Analysen der Gegenwartsfragen und folgt dabei Ives‘ Idee einer neuen Sinnhaftigkeit der Fragmente, wenn sie aus der Perspektive von jemandem betrachtet würden, der nicht er selbst sei.

Noch bis Ende September zieht das High-End-Theaterspektakel die Theaterfreaks und Sekttrinker in die alten Industriehallen in und um Bochum herum. Das Schauspielhaus mit Ex-Ruhrtriennale-Chef Johan Simons als Intendant hält sich deshalb vornehm zurück, legt erst im Oktober los. In Wuppertal ist der September bereits komplett verplant. Mit zwei Premieren und jeder Menge drum herum. Dennoch, ein kleiner Abstecher ins Ruhrgebiet könnte Sinn machen, wenn Theatre-Rites in diesem Jahr „The Welcoming Party“ in der Zechenwerkstatt Lohberg in Dinslaken aufführt oder Sasha Waltz in „Exodus“ in der Bochumer Jahrhunderthalle den kollektiven Körper derer, die ausgehen, um einzutauchen, untersucht.

Christoph Marthaler
Foto: Edi Szekely
ZUR PERSON
Christoph Marthaler (*1951 in Zürich) wurde nach seiner Zeit als Theatermusiker für eine neue Theatersprache bekannt und erhielt für Inszenierungen u.a. den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig. 2000 bis 2004 war er Intendant des Schauspielhaus Zürich.

Doch zurück in den Garten Eden, der sich eher wie Stanislaw Lems Planet anfühlt, wo auch Kommunikation zwischen den verschiedenen Lebewesen unmöglich bleibt. Bei Marthaler grassiert das Babylonische Sprachgewirr, zwei divergierende Pianos versuchen den Gleichklang, während sie sich leicht verstimmt duellieren, und irgendwo rennt immer ein Männlein mit der großen Tuba hin und her und findet sein Orchester nicht. Das alles ergibt eine fast meditative, durch Töne berauschende Szenerie, in der Mensch, Umwelt und Zuschauer vermengt werden. Flimmernd, aber unsichtbar eine Kinoleinwand um die Ecke, skurriler kann die Welt selbst nicht sein. Und sie wird auch noch übertitelt, mit sinnreichen und sinnlosen Einschüben. Auch das macht eine schwierige Verständigung ertragenswert. Gewalt durchmischt sich mit choreografischen Bewegungsstürmen. Serielles Hangeln über Tisch und Bänke. Selten weicht das Schmunzeln dem befreiten Lachen.

„You are leaving the american sector“: Das krächzende, mobile Megaphon breakt die Szenerie, irgendwo verbergen sich Textpassagen von Martin Kippenberger. So muss ein performatives Konstrukt entstehen, denn viele Notenblätter füllt die Universe Symphony nicht. Marthaler ergänzt die Installation mit Teilen aus den vier Symphonien von Charles Ives. Aufgelaufen sind dafür nicht nur die Bochumer Symphoniker, das Rhetoric Project von Titus Engel (grazil immer in kurzer Hose) und das Schlagquartett Köln, nein, irre viele SchlagzeugstudentInnen von diversen Hochschulen machen die Sichtachsen perfekt. Grandios, wenn das riesige Orchester aus dem Off im Gänsemarsch an der Zuschauertribüne vorbeidefiliert, wenn ganze Musikgruppen mit Niederbordwagen durch die Halle gekarrt werden oder in hölzernen Bauwagen verschwinden. Am Schluss natürlich „The Unanswered Question“, das Stück, das Charles Ives unsterblich machte. Diese sechs Minuten Musik, die sich durch den Nebel des Nichts einen Weg bahnen, wo eine einsame Trompete die letzten Fragen stellt, die vielleicht nur durch Töne in einer Atmosphäre beantwortet werden können, ja so ein Ende bewirkt einen ewigen wunderbaren Mystizismus.

„Universe, incomplete“ | R: Christoph Marthaler | keine weiteren Termine | Ruhrtriennale: Jahrhunderthalle Bochum | www.ruhrtriennale.de

 

PETER ORTMANN

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