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Guy Montag (Uwe Schmieder) hat ihn nackt und bloß erreicht, den Ort, wo Bücher auswendig gelernt werden
Foto: Birgit Hupfeld

Nackt in der Feuersbrunst

21. Dezember 2017

Wiedereröffnungs-Doublefeature „Biedermann und die Brandstifter“ und „Fahrenheit 451“ in Dortmund – Auftritt 01/18

Tiefe Stille liegt über der Zukunft der Menschen und ein türkisfarbener Gedanken-Schleier, der das Ton-in-Ton-Gehabe moderner Spießbürger längst ins Groteske getrieben hat. Irgendwo zwischen Grün und Blau liegt also die Welt von Gottlieb Biedermann (Ekkehard Freye), in der alles seine Norm hat, vom Zähneputzen bis zum Teddybären-Ficken. Stop. Teddybären ficken, das ist irgendwie nicht Biedermann, da muss schon etwas falsch gelaufen sein in der Programmierung der Androiden, die uns Max Frischs Mittelstufenklassiker darbieten wollen. Aufgestiegen aus der Hölle scheint das türkise Mini-Appartement, auf dessen Dach bereits ein Feuerwehrmann und zwei Engelsgleiche thronen. Sie sind schnell weg, wenn es heißt Ton-in-Ton-Frühstück, schnell noch aufs Klo und nach fast einer halben Stunde (gefühlt eine ganze) der erste Satz der ersten Parabel. Thema Brandstifter und wie man sie sich vom Hals hält. Frisch 3.0 und immer noch geht es um Brandbeschleuniger.

It came from outer space, so könnte man die Familie Biedermann, nebst Dienstmädchen Anna (Frauke Becker) charakterisieren, doch Ray Bradbury ist erst der zweite Teil des Double Features im Dortmunder Theater. Noch kämpfen Hausherr und Gattin Babette (Alexandra Sinelnikova) mit sich und mit dem Boxer Josef Schmitz, der überraschend eindrang in das Universum aus Kupfer-Aluminium-Phosphat, der allein mit schwarzen Klamotten dort Farb-Kontraste bildete, der sich argumentationsmächtig einnistet, obwohl jedem Cyborg und jeder Kohlenstoffeinheit im Publikum und jedem Android auf der Bühne sofort klar ist, dass dieser grinsende Mensch ein Brandstifter sein muss. Björn Gabriel scheint da eine Art Idealbesetzung zu sein, ihn würde man wohl selbst nicht so leicht aus der Hütte kriegen. Gewalt ist ja nie eine Lösung, aber der ist auch noch Boxer.

Gordon Kämmerers Inszenierung ist insofern schlüssig und absurd schön, wenn auch die mächtige wortlose Dystopie zu Beginn vielleicht etwas zu lang die Nerven strapaziert und das serielle choreografische Moment nicht allzu lange vorhält. Aber kein Stress. Halleluja, es lebe der Senf, es lebe die heilige Selbstbeweihräucherung, denn die ist eigentliche Ursache für das Desaster der Biedermanns. Und so bleibt alles, wie es schon immer war: Es kommt, wie es kommen muss, die beiden Brandstifter – auch Wilhelm Maria Eisenring (Max Thommes) ist nun da – nisten sich dauerhaft ein, das Benzinfass steht schon auf dem Dach. Und Biedermann hat die Handlungsmacht längst abgegeben, Angst lähmt – selten auch den Psychopathen. Da erscheint auch noch der Dortmunder Sprechchor und füllt die winzigen Zimmer: „An die Schläuche, an die Pumpe, wir sind bereit.“ Jetzt haben es alle verstanden. Aus Türkis wird Rot, das Appartement fährt hinab in die Roboter-Hölle. Bühne frei für die Hitze, die Bücher zum Brennen bringt, und in eine weitere Dystopie, wo psychopatische Brandstifter zu Vorgesetzten bei der Feuerwehr aufsteigen können.

Zweiter Auftritt von Guy Montag (Uwe Schmieder) – er hatte ja schon auf dem Dach der Biedermanns gesessen. Sein Kostüm erinnert an den Truffaut-Klassiker von 1966, und auch er trifft im Regen wie Oskar Werner die blutjunge Clarisse (Bettina Lieder), die ihn mit der Frage: „Bist du glücklich?“ aus den Angeln hebt. Montag denkt, und denken ist schlecht in einer faschistoiden dystopischen Gesellschaft, die alles tut, um Denken zu verhindern, die sogar Menschen mit ihren Büchern verbrennt. Den Feuerwehrmann haut das endgültig aus den Socken. Er trug das Glück wie eine Maske, die nun abgefallen ist. Dummerweise fallen auch die anderen Klamotten. Zuhause schaut die Frau derweil Fernsehwandsoap, und die spielt unsere Familie Biedermann zentriert geistlos bis in die Realität. Was nur noch fehlt, ist die vierte Fernsehwand, dann sei das Glück perfekt, die Menschen von der Gesellschaft entkoppelt. Hört sich ziemlich zeitgenössisch an und Regisseur Kämmerer meint das augenscheinlich auch so. Wenn wie früher auch die Häuser mitbrennen, da kann der Oberbrandstifter Captain Beatty aka Josef Schmitz (natürlich Björn Gabriel) nicht weit sein. Gleiche Biografie, dieselbe Obsession, abgefackelte Opfer hier und da. Der Feuerwehrmann wandelt sich zum nackten Christus, die letzte Festung der Literatur erscheint, wo man Bücher auswendig lernt. Ob das System der Brandstifter fällt? Wer weiß das schon. Die Botschaft zählt.

„Biedermann und die Brandstifter / Fahrenheit 451“ | R: Gordon Kämmerer | 7., 10., 26.1. 19.30 Uhr, 21.1. 18 Uhr | Schauspielhaus Dortmund | www.theaterdo.de

PETER ORTMANN

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