Eine Arena der Eitelkeiten, in der das einfache Volk leidet und sich eine selbst ernannte Elite bereichert und verlustiert. So war Florenz des Jahres 1537, so ist die Welt selbst heute eine Manege für Dekadenz und Ausbeutung geblieben. Dieser scheinbar undurchbrechbare Kreislauf von Krieg, Macht und Egoismus scheint für Alfred de Musset Anlass gewesen zu sein, auch aus der Enttäuschung über die Französische Revolution heraus, das Stück „Lorenzaccio“ zu schreiben, das auf ein Fragment der Schriftstellerin George Sand, eine der ersten Ikonen der Frauenbewegung, hervorgegangen ist.
Auf der großen Bühne des Bochumer Schauspielhauses steht ein drehbarer, gläserner Kubus, Zuschauer sitzen im Saal und in einem exakt gespiegelten Saal auf der Bühne, bilden so die Arena, die Protagonisten bewegen sich frei in allen Räumen und Reihen, ein Florenz en miniature (Bühne: Raimund Orfeo Voigt). Alles nicht neu, aber brauchbar fürs Laboratorium im Fürstentum, wo die Elite und nicht zu vergessen der korrupte Klerus mit Furcht ihre Intrigen und Besitzstände schützt. Bei über einem Dutzend Protagonisten kommen die Kostüme (Vanessa Rust) einer Räumung des Fundus gleich, konsequent indifferent sind so die Zuordnungen zu Jahrhundert und Stil, aber sie sind als Einzelaspekte auch spannend und großartig.
Schon während des Einlasses flanieren die reichen Familien durch den Saal, Alessandro de Medici, der von Papst Clemens VII., seinem Schwiegervater und Kaiser Karl V. mit Hilfe deutscher Söldner an die Macht gehoben wurde, interessiert sich nur für unschuldige junge Frauen und mancherlei Ausschweifungen. Ein Kettenhemd zeigt seine Vorsicht vor Attentaten, denn die Stichwaffen des konkurrierenden Adels sitzen locker, und das Zitat: „Es ist traurig aufzuwachen in einer blutigen Ruine“ ist wohl eine korrekte Zustandsbeschreibung. Das Kettenhemd wird ihn nicht retten, denn sein Cousin Lorenzaccio de Medici, rechtmäßiger Erbe des Throns, wird zum Attentäter.
Nora Schlocker inszeniert das (zu Unrecht) selten gespielte Stück quasi auf weitem Feld, mit vielen Laufwegen, schier endloser Choreografie und einem vielköpfigen Chor als Volk. Komprimiert werden die zentralen Szenen im gläsernen Kubus, der alle Räume darstellt und finale Handlungen von beiden Zuschauerseiten sichtbar macht. Die Handlung wird ruhig aufgebaut, fließt zäh über die Rampe und erzeugt eine oft schwer zu ertragende Spannung, ungewöhnlicherweise vergehen die zwei Stunden dann doch wie im Sturzflug. George Sands Frauenfrage (Jing Xiang als Luisa) geht allerdings ziemlich unter. Die Magie geht von Marius Huth als Lorenzaccio aus, er trägt die Handlung grandios bis zum bitteren Ende, als klar ist, dass es nichts wird mit Aufstand und Republik – die korrupten Eliten bleiben träge. So wird sich das System nach dem Fürstenmord nicht einmal schütteln, sondern wie gehabt weitermachen. Der letzte Dialog handelt vom Sinn und Unsinn des Tyrannenmords. Pech, dass niemand auf den intriganten Kardinal Cibo gehört hat, der seine unchristlichen Spielchen auf allen Seiten spielt; auch das sind wir ja bis heute gewöhnt. Ein schöner Abend mit einem spielfreudigen Ensemble.
Lorenzaccio | 26.5. 19 Uhr, 27.5. 19.30 Uhr | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
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