Finsternis herrscht in den Theatersälen, aber über dem grünen Hügel in Recklinghausen schwebt die Hoffnung. Obwohl, nach 75 Jahren will das historische Ruhrfestspiel-Motto „Kunst gegen Kohle“ nicht mehr so recht funktionieren: die letzte Zeche in NRW ist dicht und der freien Kunst wurde ohne Not die Kehle zugeschnürt, dazu ist die Bühne des Festspielhauses künstlerisch fest verrammelt. „Der Lappen muss hoch“ ist also mehr als ein hehres Ziel von Intendant Olaf Kröck und seinem Chefdramaturgen Jan Hein bei der Programmvorstellung im verwaisten Theatersaal. Sie wollen und werden nicht noch einmal das älteste Theater-Festival in Europa ausfallen lassen und wissen dafür Landes- und Kommunalpolitik und den Deutschen Gewerkschaftsbund hinter sich. „Digitalität als Zusatzqualität“ heiß die Zauberformel, mit dem sich die staatlich geförderte performative Kultur in Pixeln zu rechtfertigen versucht. Auch insofern passt das diesjährige Motto „Utopie und Unruhe“, das eben auch den analogen Geist wieder über dem kulturellen Wasser schweben lassen will.
Was geht also in diesem Jahr? Schon die erste Deutschlandpremiere im Mai ist außergewöhnlich. Sie zeigt „Die Seidentrommel“, „eine kleine feine Arbeit“ (Olaf Kröck), die die Geschichte eines alten Mannes erzählt, der die Bühne eines Theaters reinigt und sich in eine Tänzerin verliebt, die auf der Bühne ihren Part probiert. Das moderne Nō-Spiel ist die jüngste Theaterarbeit des legendären 87-jährigen Schauspielers Yoshi Oida mit der Tänzerin Kaori Ito und dem Percussionisten Makoto Yabuki (Livestream im Anschluss an die Festrede der Schriftstellerin Enis Maci am 2. Mai um 17 Uhr).
Keine Angst vor Blutspritzern
Einen Monat später dann arbeitet sich René Pollesch mit „Number Four“ an der Repräsentation innerhalb der Gesellschaft ab. Der kommende Intendant (endlich) der Berliner Volksbühne arbeitet in seinem Text mit einem Frauenensemble. „Menschen eine Stimme geben, heißt, sie auslöschen“, sagt er, hoffen wir, dass die Weltpremiere bis Juni stattfinden kann. Es bleibt dabei. Auch im Angesicht der Ausgangssperren soll es ohne Präsenz ein lustvolles Programm werden. Den Soundtrack dazu könnten die Tiger Lillies liefern. Die machen seit über 30 Jahren weltweit Spelunken und Theatersäle unsicher. Ende der 1990er gelang ihnen der morbide Musicalhit „Shockheaded Peter“. Wer angstfrei ist und keine Angst vor Blutspritzern hat, der könnte das Trio über die Ruhrfestspiele als Bonbon sogar für Zuhause buchen.
Auch das wäre vielleicht ein anderes Wir, wenn alle ohne Maske per Stream daran teilhaben könnten, denn ein Miteinander am 1. Mai wird es auf dem grünen Hügel nicht geben, Sekt und Pils schon mal gar nicht. Was Drogen im Gehirn anrichten und warum erklärt in Dries Verhoevens Installation „Happiness“ ein weiblicher Humanoid, ein menschlich aussehender Roboter. Und der kleine Raum in der Recklinghäuser Innenstadt ist endlich mal corona-sicher. Immer nur ein Mensch und die Maschine und dann wird schnüffelfrei desinfiziert. Dieser Besuch ist kostenlos. Karten für die 90 Produktionen mit rund 210 Veranstaltungen gibt´s seit 19. April.
75. Ruhrfestspiele | 1.5. bis 20.6. | Recklinghausen | Ruhrfestspiele
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