Den beiden Darstellern gebührt die Ehre, die Rede über einen friedlichen Kapitalismus mit Clown-Masken vorzutragen: „Die Idee von einem friedlichen Kapitalismus ist wahnsinnig“, so der Arbeiter Kalle zu seinem Gegenüber, dem Physiker Ziffel. „Man stellt sich das so vor: alles geht normal, es herrscht Frieden, dann kommt eine Unterbrechung, ein bedauerlicher Zwischenfall, der Krieg.“
Eine lakonische Erkenntnis, wie sie in Bertolt Brechts „Flüchtlingsgespräche“, die er Ende der 1930er im dänischen Exil schrieb, zuhauf vorkommen. Im Schauspiel Dortmund feierte Brechts Text nun als Bühnendialog eine überzeugende Premiere: ungemütlich, angriffslustig und brandaktuell, so muss Brecht auf der Bühne sein – ein literarischer Pflichttermin. Der Text (vor allem auch von Goethes 1794 erschienem „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ beeinflusst) ist ein Klassiker der Literatur, die Ausgangslage, das Szenario ist daher bekannt: Ein Proletarier, Kalle (Jürgen Mikol) und ein „Bourgeois“, Ziffel (Andreas Weißert); zwei „Klassen“, aber beide eint, Emigranten in Helsinki zu sein. Überraschend scharf und aktuell ist es dann, wenn beide über den Begriff des Emigranten nachdenken: „Immer schon fand ich den Namen falsch. Emigranten, das heißt doch Auswanderer, wir sind doch Geflohene.“
Brechts Text wurde nicht direkt für die Bühne geschrieben, ist kein Stück. Die Erzählerstimme der Prosa übernehmen die beiden Darsteller – ein einfacher wie kluger Effekt, der dem nahe kommt, was Brecht in seinem epischen Theater Verfremdungseffekt nannte. Brechts Hoffnung war, mit dieser Darstellungstechnik, Erkenntnisse auf der Bühne zu erzielen. Die sind auch gegenwärtig angebracht: Während der Premiere im Schauspielhaus ziehen zeitgleich Neonazis vor einer Notunterkunft für Geflüchtete, nachdem schon vor zwei Wochen ein brauner Fackelzug dorthin marschierte. Man muss das nicht ignorieren. Das ist der aktuelle Clou, den Brechts Texts einnimmt: Man begreift die Lage Geflüchteter – nicht durch Mitgefühl oder Larmoyanz, sondern durch Denkanstöße; da kann man „seinen Brecht“ zurechtstutzen wie man will, geheuer war dem Theaterpublikum sein Humanismus nie, denn es ist ein konsequent zu Ende gedachter, einer, der dem Kapitalismus an die Wäsche will. Das macht auch Mikols und Weißerts Bühnendialog im Schauspielhaus Dortmund aus. So kommt der Bürgerliche Ziffel auf die „Lösung“, wie man denn die Misere mit dem Krieg lösen kann: „Nur die restlose Entfernung der Völker könnte eine vernünftige Kriegsführung ermöglichen. Und es müsste eine Dauerevakuierung sein.“
Die oft gescholtene brecht'sche Banalität kommt an diesem Abend schlagender denn je zur Geltung, etwa wenn beide über den Pass philosophieren: „Mann kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes.“ Es trifft auch die gegenwärtig Logik der Asylpolitik. Auf der Bühne werden auch eigenständige Aktualisierung des Brecht-Textes vorgenommen, durch Songs aus der „Dreigroschenoper“ oder durch eine Rede, die Kalle vorträgt: „Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden. Nur unter der Betonung der Friedensabsichten war es mir möglich, dem deutschen Volk Stück für Stück die Freiheit zu erringen und ihm Rüstung zu geben, es war nurmehr notwendig, klarzumachen, daß es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen.“ Ziffel fragt nach: „Ist das vom Nato-Generalsekretär oder von Herrn Gauck?“ - Kalle: „Es ist eine Rede von Hitler.“
Aufrüstung, Militarismus, Friedenseinsätze – die beiden Flüchtlinge beenden ihren Bühnendialog damit, die Fluchtursachen beim Namen zu nennen: Krieg. Und während sich rund 500 Menschen vor einer Notunterkunft Geflüchteter einem grölenden Nazi-Mob in den Weg stellen, stimmen auf der Bühne ein Arbeiter und ein Akademiker Brechts Einheitsfrontlied ein: „Und weil der Mensch ein Mensch ist...“
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