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„Du hast gewackelt“
Foto: Thomas Dashuber

Dramatische Bestenliste

01. Juni 2013

Das „Stücke“-Festival in Mülheim – Theater Ruhr 06/13

Die neueste Jury ist immer die dümmste. Festivals, die sich auf die Fahnen schreiben, die Trüffel vom Kunstacker aufzuklauben, sehen sich einem wiederkehrenden Ritual gegenüber: Jeder selbsterklärte Kunstrichter kann aus dem Eff-Eff eine Bestenliste herunterbeten, die den amtierenden Juroren genüsslich eklatante Blindheit nachweist. Dem „Stücke“-Festival in Mülheim an der Ruhr kann das eigentlich nicht passieren. Überall, wo das Etikett „Uraufführung“ draufklebt, müssen die Juroren hin. Was allerdings als wichtig gilt, da hat der Kunst-Stammtisch wiederum seine eigene Meinung.

Acht Stücke von Autoren waren diesmal eingeladen, von Dauergast Elfriede Jelinek („FaustIn and out“) über Moritz Rinke („Wir lieben und wissen nicht“), Felicia Zeller („X-Freunde“) bis zur Mülheim-Newcomerin Marianna Salzmann. Ihr Drei-Frauen-Stück „Muttersprache Mameloschn“ ist eine mitreißende Komödie, die auf dem Familienschlachtfeld ausgefochten wird. Großmutter Lin, Mutter Clara und Tochter Rahel liefern sich einen pointengespickten Nahkampf, der geschickt das Thema der jüdischen Mame mit der Frage der eigenen Jewishness verknüpft. Das ist knallkomisch, aber nicht ganz klischeefrei. Bemerkenswert macht „Muttersprache Mameloschn“ aber, wie das Stück das Leben jüdischer Frauen in der DDR vom Glauben an den staatlichen Antifaschismus bis zum areligiösen Nischenleben behandelt. Die junge Regisseurin Brit Bakowiak hat das am Deutschen Theater mit viel Raum für die Schauspielerinnen Gabriele Heinz, Anita Vulesica und Natalia Belitski brillant inszeniert. Ganz anders dagegen Lars-Ole Walburgs einfallslos aufgemotzte Deutung von Nis-Momme Stockmanns „Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir“, die dem dreihundertseitigen Epos eher schadet als nützt. Ein Banker hat sich selbst outgesourct und sucht nach dem Ansatzpunkt, um das System zu destabilisieren. Auf seiner Suche trifft er einen Vermieter, eine junge Frau, einen Mann mit Turban oder auch Guido Knopp – alle genauso hilflos wie er selbst. Ein Stationendrama im Hamsterrad, ein Abgesang auf unsere Taten- und Hilflosigkeit – ermüdend, redundant, aber in seiner Monstrosität auch Respekt abnötigend.

Das versteckte Generalthema des Festivals war diesmal der Kindesmissbrauch. Elfriede Jelinek, die junge Katja Brunner behandeln es, aber auch Altmeister Franz-Xaver Kroetz in „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“ – beeindruckend auf der gefluteten Bühne inszeniert von Anne Lenk. Angelehnt an den „Fall Pascal“ von 2001 wird hier ein Panorama der Täterstimmen entfaltet. Zwei Frauen und fünf Männer treten jeweils in Dialog mit dem toten missbrauchten Jungen und liefern dessen Antworten gleich mit. Das Opfer bleibt in diesem Monolog des Missbrauchs, der sich als Liebe und Zuwendung tarnt, sprachlos. So verlogen und selbst entlarvend war eine Totenklage lange nicht. Ob Kroetz, Salzmann oder Stockmann:Die drei dramatischen Entwürfe zeigen, dass die Mülheimer Jury so falsch nicht lag.

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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