Was Menschen von allen anderen Spezies unterscheidet ist die Art, wie wir mit unseren Verstorbenen umgehen. Tiere trauern auch, aber die menschliche Bestattungskultur ist einzigartig. Frühsten Schätzungen zufolge beerdigt Homo Sapiens seine Toten schon, seit er vor 300.000 Jahren auf der Bildfläche erschien. Damals wie heute hilft das Ritual einer Bestattung besonders den Hinterbliebenen dabei, Abschied zu nehmen, den Verlust zu realisieren und doch an den oder die Verstorbene/n zu erinnern. Wie wichtig eine würdige Beisetzungsein kann, davon erzählt auch Sophokles in seinem antiken Epos Antigone: Der Tyrann Kreon von Theben verbietet Antigone darin die Bestattung ihres Bruder Polyneikes, weil der in einem Angriffskrieg gegen Theben gefallen ist. Antigone setzt sich darüber hinweg und wird zur Strafe eingemauert, was ziemlich viele weitere Tode zur Folge hat.
Diesen Konflikt greift auch Thomas Köck mit seiner Bearbeitung des Stoffes in seinem Stück „Antigone. Ein Requiem“ auf. Im September 2020 feierte es unter der Regie von Simone Thoma am Theater an der Ruhr Premiere, nun kann es auf der Plattform Twitch live getreamt werden. Der antike Mythos spielt dabei keine Rolle. Es geht nicht um Königskinder, die in der heroischen Schlacht fallen. Die würdige Bestattung, für die Antigone (Dagmar Geppert) hier kämpft, ist die der namenlosen Opfer, die an den Stränden der westlichen Welt angespült werden und für die sich – im Tod wie im Leben – niemand verantwortlich fühlt. Fabio Menéndes ist ein aalglatter Kreon und Roberto Ciulli, selbst Regisseur, Gründer und Leiter des Theater an der Ruhr, hat einen Auftritt als Seher Teiresias. Simone Thoma und ihr Ensemble zeigen den Konflikt zwischen Humanität und politischem Kalkül auf, wo Idealismus der Seenotretter:innen mit dem bürokratischen Wahnsinn der Asylverfahren kollidiert. Wo weder der Toten gedacht noch den Lebenden mit Menschlichkeit und Mitgefühl geholfen wird zeigt sich, dass der Mensch noch in anderer Weise einzigartig ist. Und zwar in seiner Grausamkeit.
Antigone. Ein Requiem | 19.2. 19.30 Uhr (Stream) | Theater an der Ruhr
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die Toten zum Verwesen freigegeben
„Antigone. Ein Requiem“ im Theater an der Ruhr in Mülheim – Bühne 02/21
„Eine Leerstelle in der europäischen Demokratie“
Philipp Preuss über „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“ in Mülheim – Premiere 12/20
Die Träume des Dritten Reichs
Lars von Triers „Europa“ in Mülheim – Bühne 11/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
„Wir haben eine falsche Rezeption von Migration“
Theaterchef Roberto Ciulli über „Boat Memory / Das Zeugnis“ – Premiere 12/19
Lange Nächte
Weiße Nächte im Mülheimer Raffelbergpark – Bühne 07/19
Unausrottbar: die Doppelmoral
„Der Besuch der alten Dame“ in Mülheim – Theater Ruhr 12/18
Bruchstücke
Performance & Artisttalk zu „Home away from home“ in Essen – Prolog 02/21
Wider das Mechanistische
„LandScaping 0.1“ im Maschinenhaus in Essen – Bühne 02/21
Stimmungsvolles Fabulieren
„Shamrock!“ im Consol Theater in Gelsenkirchen – Bühne 02/21
Das langsame Ende eines schnellen Anfangs
„Squash“-Premiere in Bochum – Bühne 02/21
Zuhören, um die Zukunft zu retten
Radiomärchen zum Mitmachen: „Hurly*Burly“ von Paradeiser – Spezial 01/21
Das Rascheln als Prinzip
Ulrich Greb inszeniert im Moerser Einkaufzentrum Kafkas „Process“ – Auftritt 12/20
„Eine neue Form von Stadtgesellschaft“
Anna Bründl über die Theaterallianz vier.ruhr – Interview 12/20
Rache für den Gedankenstrich
„Marquise von O…“ in der Essener Casa – Auftritt 11/20
Im emanzipatorischen Maschinenraum
Mette Ingvartsens „Moving in Concert“ auf Zollverein – Bühne 11/20
„Das Stück zur Stunde“
Jens Dornheim inszeniert in Dortmund „Der Reichsbürger“ – Premiere 11/20
Reißen am Korsett
„Bye, Bye Hochkultur“ von Familie Rangarang – Bühne 11/20
Der schwierige Wind der Freiheit
Festival Westwind in NRW – Prolog 11/20
„Ohne euch geht es nicht!“
Ballettintendant Ben Van Cauwenbergh über die neue Spielzeit in Essen – Interview 10/20
Die Kunst, immer mit Dreck zu schmeißen
„King Lear“ in Bochum – Auftritt 10/20
„Was bedeutet es eigentlich gerade ein Mensch zu sein?“
Julia Wissert ist die neue Intendantin am Theater Dortmund – Premiere 10/20