Ein Körper liegt regungslos in einem Rechteck aus Licht. Die Bühne im Theater an der Ruhr ist offen wie selten. Hier spielt die Uraufführung von Anselm Nefts Roman „Vom Licht“, inszeniert vom italienischen Kollektiv Anagoor. Die Geschichte von Valentin (Steffen Reuber) und Norea (Dagmar Geppert) auf ihrem Selbstversorgerhof in der österreichischen Provinz, wo sie ihre Adoptivkinder Manda (Berit Vander) und Adam (Leonard Hügger) unter der Prämisse aufziehen, dass alle Materie böse und falsch ist und angeblich nur die Heimkehr in ein entmaterialisiertes Lichtreich das Ziel ihrer Existenz sein kann. Soll heißen Selbstmord ist die letzte Logik allen ihren Tuns.
Aus der Sicht des Jungen wird die Tragödie des scheinbaren Wissens erzählt, die Aufführung folgt den Kapiteln des Buches, aber nicht bis in die letzte Konsequenz. Treiber in der Suche nach der das All umfassenden Wahrheit ist sicher Norea, die sich an gnostischen Mythen empor gearbeitet hat und nun diese Weltsicht mit stoischer Argumentation verteidigt. Ihr Mann versucht immer noch ein Gleichgewicht zwischen kindlichen Neigungen und der ewigen Auseinandersetzung mit dem Mythos zu halten, auch ist er es, der allein den beiden Zuneigung und Nähe entgegen bringt. Norea verhärmt immer weiter, ein Telefonat mit ihrer Mutter zeigt, wie weit sie der Welt entrückt ist.
Regisseur Simone Derai erzeugt dafür Bilder von seltsamer Schönheit. Manda und Adam tragen die gesamte Inszenierung ihre anstrengende, weil hyperpädagogisierte Kindheit als Puppen (großartige Arbeit: Katharina Lautsch – Puppen; Ulrike Langenbein – Coaching) mit sich herum. Als sie in der Pubertät beginnen, die Sinnhaftigkeit von Verzicht auf Genuss und endloser Diskussion zu hinterfragen, werden die Hände ihrer Puppen grausam an Schultische festgenagelt. Dabei gibt es keine Aufgeregtheiten, alles fließt in einem Strom aus Tönen und Licht über die Bühne, selbst die Selbsttötung als Konsequenz der Erkenntnis schwebt nur bleiern über der wunderbar langsamen Choreografie, die die manchmal schwer zu fassenden verbalen Argumentationsketten untermalt. Nach der Pause beginnt sich die jugendliche Manda zu wehren, hinterfragt das schroffe Weltbild, sehnt sich nach Genuss am Leben. Sie ist es leid, unreflektiert Religions- und Wissenschaftsaspekte zu negieren, stellt unlautere persönliche Fragen, die werden natürlich nur mit einem Mangel an Erkenntnis erklärt. Manda zieht ihrer Puppe die Nägel aus den Händen und verlässt mit ihr den Selbstversorgerhof, wo es nur noch Kürbis zu essen gibt.
Adam bleibt zweifelnd zurück – und dann überschlagen sich die Ereignisse, Manda wird völlig apathisch von der Polizei zurückgebracht, die Fassade von Familie stürzt in sich zusammen, das Konzept von freiwilliger Elternschaft und zielgerichteter Erziehung an sich versagt. Was dann kommt, ist der Abgrund selbst. Die alte Norea (jetzt Petra von der Beek) hält erschöpft ihren letzten, minutenlangen Monolog gegen die Welt da draußen. Wie tragisch diese Geschichte wirklich ist, schauen Sie lieber selbst, diese Inszenierung ist jede Reise wirklich wert.
Vom Licht | 9.4. 19.30 Uhr, 10.4. 18 Uhr | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 599 01 88
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Das unnahbare Greifen
„Geheimnis 3“ am Theater an der Ruhr in Mülheim
Zwischen Realität und Irrsinn
„Kein Plan (Kafkas Handy)“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Prolog 01/25
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Das Trotzen eines Unglücks
Die neue Spielzeit der Stadttheater im Ruhrgebiet – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
„Theater wieder als Ort einzigartiger Ereignisse etablieren“
Dramaturg Sven Schlötcke übertiefgreifendeVeränderungen am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/23
Ibsen im syrischen Knast
„Up there“ am Theater an der Ruhr – Prolog 11/22
Auf diesem geschundenen Planeten
„Weiße Nächte / Retour Natur“ des Theater an der Ruhr – Prolog 08/22
Gegen den Mangel an Erkenntnis
„Vom Licht“ in Mülheim – Prolog 03/22
Nebel, Schaum und falsche Bärte
„Nathan.Death“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 11/21
Wenn die Natur zum Ausnahmezustand wird
Vladimir Sorokins „Violetter Schnee“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Bühne 08/21
„Eine Welt, die aus den Fugen ist“
Kulturamtsleiter Benjamin Reissenberger über das Festival Shakespeare Inside Out in Neuss – Premiere 07/25
Der verhüllte Picasso
„Lamentos“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 07/25
Von Shakespeare bis Biene Maja
Sommertheater in NRW – Prolog 06/25
„Da werden auch die großen Fragen der Welt gestellt“
Kirstin Hess vom Jungen Schauspiel Düsseldorf über das 41. Westwind Festival – Premiere 06/25
„Das Publikum ist verjüngt und vielfältig“
Opernintendant Heribert Germeshausen zum Wagner-Kosmos in Dortmund – Interview 06/25
Tanz als Protest
„Borda“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 06/25
Morgenröte hinter KI-Clouds
Das Impulse Festival 2025 in Mülheim, Köln und Düsseldorf – Prolog 05/25
Rock mit Käfern, Spiel mit Reifen
41. Westwind Festival in Düsseldorf – Festival 05/25
Das Vermächtnis bewahren
Eröffnung des Bochumer Fritz Bauer Forums – Bühne 05/25
Von und für Kinder
„Peter Pan“ am Theater Hagen – Prolog 05/25
„Der Zweifel als politische Waffe“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Premiere 05/25
Entmännlichung und Entfremdung
Festival Tanz NRW 2025 in Essen und anderen Städten – Tanz an der Ruhr 05/25
Jenseits des männlichen Blicks
„Mother&Daughters“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 04/25