Die Frage nach der Toleranz oder Ungläubigen-Vernichtung als Trash-Guckkastentheater. Ein echter White Cube ist die Bühne für die Auseinandersetzung der Religionen in Mülheim. Das Theater an der Ruhr zeigt „Nathan.Death“ von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, inszeniert von Phillip Preuss. Im Publikum eine ganze Oberstufenklasse, kein Wunder, Gotthold Ephraim Lessings dramatisches Gedicht „Nathan der Weise“ passt seit seiner Veröffentlichung 1779 wohl nahtlos in alle deutschsprachigen bildungsbürgerlichen Schulsysteme, wird im Stück doch mit viel Konstrukt und einer inzwischen berühmten Ringparabel die Toleranz als heilige Pflicht des Humanismus propagiert – ein Anspruch an die Menschen, der bei Preuss‘ Inszenierung ziemlich unter die Räder gerät. Denn so einfach ist das mit der Toleranz nicht, insbesondere wenn es um die Religion geht – und um die Alleinherrschaftsansprüche, die von Seiten der Gläubigen und spirituellen Wortführer allzu oft an sie gestellt werden und in Folge nach außen hin verteidigt werden müssen.
Das, was im Theater an der Ruhr im unschuldig weißen Kubus verhandelt wird, könnte man locker auch als quälende Dauer-Provokation begreifen, und die beginnt schon während noch das Publikum seine nummerierten Plätze sucht. Die Maskenbildnerin liegt in den letzten Zügen und geht dann ab. Die bärtigen Protagonisten der drei rivalisierenden Kräfte um ein und denselben Gott machen noch ein paar Dehnübungen. Ein schneller Schluck aus der Wasserflasche und dann geht’s rund um den rechten Glauben und natürlich um Macht, Einfluss und die Weiber. Religion war immer und ist immer noch eine Macho-Zone, Zonenrandgebiete sind da (auf ewig) ausgeschlossen. Preuss hintergeht das lässig, in dem er die ein wenig an (anthropologisch falsche) Neandertalertypen erinnernden patriarchalen Religionsvertreter mit drei überaus spielfreudigen Frauen (Sarah Moeschler, Gabriella Weber, Berit Vander) besetzt, die, nachdem sie sich in „Männer“ verwandelt haben, stereotyp posierend die Bühne beherrschen, während sie ihre jeweilige Sicht auf die eine Wahrheit mit einem Dauerbeschuss von heiligen Zitaten legitimieren wollen und müssen.
Das Stück spielt in Jerusalem. Hier treffen die, ich zitiere mal den Regisseur, fundamental gläubigen Apokalyptiker aufeinander. Am Ende gibt es noch einen terroristischen Anschlag, der die drei niederstreckt, sie aber dennoch immer schwächer werdend Auszüge aus den „311 Gottesdefinitionen“ von Valére Novarina deklamieren lässt. Eine zusätzliche Qualität erhält der Abend mit seinen drei Bildern durch den Choreografen Nir de Volff, der mit den Schauspielerinnen das Gestische der drei religiösen rituellen Praktiken in einen Kontext zu den Texten transformierte. Fast tänzerisch überblenden die bewegten Bilder die fundamentalistische Symbolik, zeigen Gemeinsamkeiten, aber auch Konfliktbewältigung auf. Insbesondere dann, wenn sich jeder/jede mit seiner/ihrer donnernden Blechtafel Gehör verschaffen will. Im Gedächtnis bleibt ein fordernder Abend mit ungewöhnlichen Sichtachsen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
„Theater wieder als Ort einzigartiger Ereignisse etablieren“
Dramaturg Sven Schlötcke übertiefgreifendeVeränderungen am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/23
Ibsen im syrischen Knast
„Up there“ am Theater an der Ruhr – Prolog 11/22
Auf diesem geschundenen Planeten
„Weiße Nächte / Retour Natur“ des Theater an der Ruhr – Prolog 08/22
Vom Universum geblendet
„Vom Licht“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 04/22
Gegen den Mangel an Erkenntnis
„Vom Licht“ in Mülheim – Prolog 03/22
Wenn die Natur zum Ausnahmezustand wird
Vladimir Sorokins „Violetter Schnee“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Bühne 08/21
Beuys inklusive Torte, Kerze und Whisky
Theater, Kunst und Musik gegen Kohle: die Weißen Nächte im Theater an der Ruhr – Festival 08/21
Ihr wollt Brot, sie werfen euch Köpfe hin!
„The Return of Danton“ in Mülheim – Prolog 06/21
Die Toten zum Verwesen freigegeben
„Antigone. Ein Requiem“ im Theater an der Ruhr in Mülheim – Bühne 02/21
Von Sophokles zu Frontex
„Antigone. Ein Requiem“ im Theater an der Ruhr in Mülheim – Prolog 02/21
„Eine Leerstelle in der europäischen Demokratie“
Philipp Preuss über „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“ in Mülheim – Premiere 12/20
Von der Straße ins Theater
„Multiversum“ am Theater Oberhausen – Prolog 04/24
Tödlicher Sturm im Wurmloch
„Adas Raum“ am Theater Dortmund – Prolog 04/24
Mackie im Rap-Gewand
„MC Messer“ am Theater Oberhausen – Tanz an der Ruhr 04/24
Die ultimative Rache vor weißer Schleife
„Die Fledermaus“ mit Schauspielstudierenden an den Kammerspielen Bochum – Auftritt 04/24
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
„Zu uns gehört das Lernen von den Alten“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2024 – Premiere 04/24
Verloren im Nebel
Das Duo Paula Rot im Foyer des Theaters Duisburg – Bühne 03/24
Glücklich bis ans Ende?
„Star-Crossed Lovers“ in Essen – Prolog 03/24
Ein Baum im Herzen
„Eschenliebe“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 03/24
Liebe und Gewalt
„Told by my Mother“ in Mülheimer a.d. Ruhr – Tanz an der Ruhr 03/24
Über die Familie
45. Duisburger Akzente – Festival 03/24
Sternfahrt zum Shoppen
„Einkaufsstadt, 4300“ von Trio ACE in Essen – Prolog 03/24
„Im Gefängnis sind alle gleich“
Regisseurin Katharina Birch über „Die Fledermaus“ an den Bochumer Kammerspielen – Premiere 03/24