Eine Kneipe irgendwo im Ruhrgebiet. Das Publikum sammelt sich vor der stählernen Tür. „Sechs Gramm Caratillo“ steht auf dem Programm. Ist noch gar nicht so lange her, dass Klaus Kinski mit dem Hörspiel im Radio zu hören war. Zum 50. Jahrestag hatte man das halbe Stündchen „Dahinsiechen“ von Horst Bienek (1930 bis 1990) noch mal gesendet. Ich weiß nicht mehr wo. Jetzt geht es erst einmal durch die stählerne Tür, die schmale Treppe hinab. Es ist dunkel, es ist stickig, ein kleiner Tisch, an dem eine junge Frau sitzt, das Publikum gedrängt davor. Es riecht nach Kunst, mitgebrachten Bierflaschen und – ich weiß nicht so recht. Es ist soweit. Die Frau (Nora Bauckhorn) blickt auf, erklärt den Abend zur Kunstperformance (ich hab es ja gewusst), eine Aktion über den Tod, einer wird filmen bis zum ihrem Ende. Und das Publikum darf den Raum nicht verlassen. Ich höre noch oben die stählerne Tür ins Schloss krachen und denke erst an mal an die Frage, ob Freiheitsberaubung per Eintrittskarte ausgeschlossen werden kann. Dann fällt mir ausgerechnet der Song „No One Here Gets Out Alive“ von Jim Morrison ein. Den hatte ich auf einer der ersten Buntvinyls. Genug des Abschweifens.
Die letzten Lichter sind gelöscht. Auf der Bühne wird das Video eingeschaltet. „Dies ist kein normaler Theaterabend.“ Die Frau wendet sich direkt ans Publikum. Der Ansatz ist neu, anders als das Kinski-Hörspiel. Und ihre Bedingungen für das Zusehen sind krass. Jeder ist einverstanden, gefilmt zu werden, nach ihrem Tod geht das Filmchen ins Netz. Wir sind natürlich alles Gaffer, sie die Künstlerin. „Es ist 22:30, halb elf genau. Ich trinke jetzt ein Glas Wasser mit 6 Gramm Caratillo. Das ist ein mexikanisches Gift. In einer halben Stunde wird alles vorbei sein.“ Das ist der Originaltext, und er wird von Kinskis Stimme eingesprochen. Dachte ich. Doch es ist Jörg Schultze-Neuhoff, dessen Sprachklang das 1960er-Feeling herbeizaubert. Und es wird auch eine Stunde dauern, das unbekannte Caratillo war wohl aus, ein anderes Gift also, eine andere Zeitspanne, die Uhr wird gestellt, nebst Wecker in 60 Minuten: Sie werde das Schellen ja nicht mehr hören, sagt die Frau noch, dann passiert erst einmal nix.
In der Höhle von Lascaux muss es sich damals wohl auch so angefühlt haben, ungläubiges Staunen derer, die den Bieneck nicht kannten, klaustrophobische Gespanntheit beim Rest. Warum steht da ein Flamingo auf dem Kopf? „Das Experiment“ zum Wohle der Massen hat anders als im Original-Textbuch mehrere Ebenen, die Regisseur Jens Dornheim auf kleiner Fläche verquicken muss. Seine Protagonistin hat Beweggründe, die jenseits des Performativen liegen, ihr Leben hat Brüche, Enttäuschungen, Niederlagen, ihre Kunst ist tatsächlich nur vorgeschoben, wo Kinski noch am Menschsein verzweifelt ist, bohrt in ihr eher der Hass. „Irgendwo hab ich mal gelesen, dass im Sterben die Bilder der Vergangenheit lebendig werden. Aber ich will nicht an meine Kindheit erinnert werden. Ich war einsam“, flüsterte der Meister ins Mikro, die Frau hat einen Revolver dabei, willig ihn auch zu gebrauchen. Nicht alle Zuschauer werden die Katakomben also lebend verlassen.
Nora Bauckhorn, die auch für die maßvolle Veränderung des Bienek-Textes verantwortlich ist, hat nicht viele choreografische Möglichkeiten, nicht viele Requisiten, warum auch, wer schleppt zum Ableben noch schwere Taschen mit sich rum? Aber sie ist eindringlich, wie der böse tickende Wecker. Ihre echten Gedanken kommen von der Leinwand, politische Schnipsel aus TV und Web, Uwe Barschel und Kurt Cobain, dazu ein s/w-Stummfilm (Sascha Bisley und Thaisen Stärke). Irgendwann kippt die Aktion. Am Ende zählt wohl doch nur noch das nackte Leben, doch so Giftcocktails haben eben keine Seele und kein Gewissen. Der Wecker schellt, die Frau blickt auf, sie hat es gehört. Dann ist sie tot. Ein Abend, den man sich nicht entgehen lassen sollte, wie irgendwann danach auch mal das Original.
„Sechs Gramm Caratillo“ | R: Jens Dornheim | Fr 14.8. 19.30 Uhr | Rottstr 5 Theater, Bochum | 0163 761 50 71
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