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Überwältigte Kolonialistenkarikatur: Shakespeares Prospero erlebt in „Zwischen zwei Stürmen“ eine Überraschung
Foto: Birgit Hupfeld

Die Entzauberung des Patriarchats

07. Dezember 2021

„Zwischen zwei Stürmen“ am Schauspiel Dortmund – Bühne 12/21

Stumm blieb sie auch, nachdem Aimé Césaire Shakespeares „Der Sturm“ Ende der 1960er-Jahre für ein schwarzes Theater umschrieb: Die überlieferte Geschichte von Sycorax  – einer mächtigen Hexe, die aus Algier auf eine Insel verbannt wurde, wo sie ihren Sohn Caliban gebar – findet nur in den Worten von Prospero Erwähnung. Shakespeares Spätwerk erzählt vielmehr diese Geschichte von Prospero, einem Zauberer und einstigen Herzog von Mailand, bevor sein Bruder ihn gemeinsam mit seiner Tochter auf eine Insel verbannte. Dort errichtete Prospero wiederum eine Herrschaft, mit der er Caliban versklavte (sodass Shakespeare bereits frühkolonialistische Motive lancierte).

Regisseur Poutiaire Lionel Somé inszeniert im Schauspiel Dortmund ein Crossover der beiden Sturm-Vorlagen, das auf den großen Auftritt dieser Sycorax hinausläuft und die bisherige, männliche Repräsentanz durcheinanderwirbelt: Alle Figuren werden etwa von Darstellerinnen gespielt. Marlena Keil poltert als Kolonialistenkarikatur, die von ihrem rundförmigen Podest, das vielleicht ein Schiffsdeck sein könnte (Bühnenbild: Marion Schindler), Kommandos an ihre Untertanen Caliban (Sarah Yawa Quarshie) und Ariel (Valentina Schüler) gibt.

Sturm und Zorn

Den Luftgeist Ariel steckt Somé dagegen in ein weißes Federkostüm, in dem er auf einer Gaze-Leinwand über das Meer flattert, in welchem sich wiederum der erste, von Prospero beauftragte, Sturm dieser flotten 70-minütigen Inszenierung zusammenbraut. Vielmehr bleibt nicht von der Shakespeare-Vorlage übrig, sein letztes Stück erscheint so weit entskelletiert, dass es als rudimentäre Reibungsfläche erkennbar ist.

Quarshies Caliban, die lieber Bamawo genannt werden möchte, weil es den Nominalismus des Kolonialherren abstreift, betet bereits im Prolog Yamaya eine Art Meeresgöttin an: „Und lässt diejenigen den Zorn deines Wellenschlags spüren, die mein Erbe nicht sehen.“ Dieser finale Sturm, der bereits zu Beginn beschworen wird, bildet eine Art Klammer, in der Versatzstücke dieses Stücke-Komplexes integriert werden: vor allem Césaires Dynamisierung der Figurenkonstellation.

Antikoloniales Zauberstück

Ariel, Bamawo und Miranda, Prosperos Tochter, verbünden sich schließlich gegen den Usurpator. Zu dritt formieren sie sich auf der Rampe, um das Unwetter zu entfesseln, als Publikumsansprache, die auch die bestehende Repräsentation und Identität durchlüftet: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie den Glauben an das verlieren, was ihre Ausweisdokumente über Sie sagen.“

Der durch Yemaya entfachte Sturm sorgt schließlich für den Auftritt von Sycorax, gespielt von der Essener Spoken-Word-Künstlerin Bernice Lysania Ekoula Akouala. Sie erscheint zunächst auf der Leinwand, kurz darauf auf der Bühne; und während Prosperos Magie verpufft, erzählt Sycorax ihre Geschichte – davon, wie sie von einem Seefahrer verschleppt und versklavt, schließlich erst als „Hexe“ gebrandmarkt wurde.

Somés Inszenierung nach einer Fassungen der Dramaturg:innen Christopher Fares Köhler und Sabine Reich spürt zwar die Leerstelle um die Figur der Sycorax auf, doch das Ergebnis gerät an keiner Stelle sperrig: „Zwischen zwei Stürmen“ entpuppt sich als flottes wie witziges Zauberstück, eine antikoloniale und antipatriarchale Dekonstruktion, die Europas Selbstherrlichkeit kentern lässt.

Zwischen zwei Stürmen | 9.12., 10.12., 11.12., 23.12., 22.1., 23.1.22 | Schauspielhaus Dortmund | 0231  50 27 222

Benjamin Trilling

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