Stumm blieb sie auch, nachdem Aimé Césaire Shakespeares „Der Sturm“ Ende der 1960er-Jahre für ein schwarzes Theater umschrieb: Die überlieferte Geschichte von Sycorax – einer mächtigen Hexe, die aus Algier auf eine Insel verbannt wurde, wo sie ihren Sohn Caliban gebar – findet nur in den Worten von Prospero Erwähnung. Shakespeares Spätwerk erzählt vielmehr diese Geschichte von Prospero, einem Zauberer und einstigen Herzog von Mailand, bevor sein Bruder ihn gemeinsam mit seiner Tochter auf eine Insel verbannte. Dort errichtete Prospero wiederum eine Herrschaft, mit der er Caliban versklavte (sodass Shakespeare bereits frühkolonialistische Motive lancierte).
Regisseur Poutiaire Lionel Somé inszeniert im Schauspiel Dortmund ein Crossover der beiden Sturm-Vorlagen, das auf den großen Auftritt dieser Sycorax hinausläuft und die bisherige, männliche Repräsentanz durcheinanderwirbelt: Alle Figuren werden etwa von Darstellerinnen gespielt. Marlena Keil poltert als Kolonialistenkarikatur, die von ihrem rundförmigen Podest, das vielleicht ein Schiffsdeck sein könnte (Bühnenbild: Marion Schindler), Kommandos an ihre Untertanen Caliban (Sarah Yawa Quarshie) und Ariel (Valentina Schüler) gibt.
Sturm und Zorn
Den Luftgeist Ariel steckt Somé dagegen in ein weißes Federkostüm, in dem er auf einer Gaze-Leinwand über das Meer flattert, in welchem sich wiederum der erste, von Prospero beauftragte, Sturm dieser flotten 70-minütigen Inszenierung zusammenbraut. Vielmehr bleibt nicht von der Shakespeare-Vorlage übrig, sein letztes Stück erscheint so weit entskelletiert, dass es als rudimentäre Reibungsfläche erkennbar ist.
Quarshies Caliban, die lieber Bamawo genannt werden möchte, weil es den Nominalismus des Kolonialherren abstreift, betet bereits im Prolog Yamaya eine Art Meeresgöttin an: „Und lässt diejenigen den Zorn deines Wellenschlags spüren, die mein Erbe nicht sehen.“ Dieser finale Sturm, der bereits zu Beginn beschworen wird, bildet eine Art Klammer, in der Versatzstücke dieses Stücke-Komplexes integriert werden: vor allem Césaires Dynamisierung der Figurenkonstellation.
Antikoloniales Zauberstück
Ariel, Bamawo und Miranda, Prosperos Tochter, verbünden sich schließlich gegen den Usurpator. Zu dritt formieren sie sich auf der Rampe, um das Unwetter zu entfesseln, als Publikumsansprache, die auch die bestehende Repräsentation und Identität durchlüftet: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie den Glauben an das verlieren, was ihre Ausweisdokumente über Sie sagen.“
Der durch Yemaya entfachte Sturm sorgt schließlich für den Auftritt von Sycorax, gespielt von der Essener Spoken-Word-Künstlerin Bernice Lysania Ekoula Akouala. Sie erscheint zunächst auf der Leinwand, kurz darauf auf der Bühne; und während Prosperos Magie verpufft, erzählt Sycorax ihre Geschichte – davon, wie sie von einem Seefahrer verschleppt und versklavt, schließlich erst als „Hexe“ gebrandmarkt wurde.
Somés Inszenierung nach einer Fassungen der Dramaturg:innen Christopher Fares Köhler und Sabine Reich spürt zwar die Leerstelle um die Figur der Sycorax auf, doch das Ergebnis gerät an keiner Stelle sperrig: „Zwischen zwei Stürmen“ entpuppt sich als flottes wie witziges Zauberstück, eine antikoloniale und antipatriarchale Dekonstruktion, die Europas Selbstherrlichkeit kentern lässt.
Zwischen zwei Stürmen | 9.12., 10.12., 11.12., 23.12., 22.1., 23.1.22 | Schauspielhaus Dortmund | 0231 50 27 222
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Bakterien im Spa
„Ein Volksfeind“ am Theater Dortmund – Prolog 02/24
Unendliche Möglichkeiten
„I wanna be loved by you“ am Schauspielhaus Dortmund – Prolog 10/23
Analoge Zukunft?
Die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund eröffnet ihren Neubau – Theater in NRW 10/23
„Dass wir vor lauter Geldfetisch nicht mehr wissen, wo oben und unten ist“
Regisseur Kieran Joel über „Das Kapital: Das Musical“ am Theater Dortmund – Premiere 09/23
Bewegte und bewegende Formen
20 Jahre Ballett in Dortmund – Prolog 08/23
Wodka gegen die Wiederkehr des Gleichen
Anton Tschechows „Onkel Wanja“ am Theater Dortmund – Auftritt 05/23
Show und Bedeutung
„Nixon in China“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 03/23
Lug und Trug und göttliche Rettung
„Onkel Wanja“, „Orestes“ und „Dantons Tod“ – Prolog 03/23
Tanz mit einer toxischen Zwiebel
„Peer Gynt“ am Opernhaus Dortmund – Auftritt 03/23
Liebe in Zeiten des NSU-Terrors
„Das Herz liegt begraben“ im Theater Dortmund – Bühne 09/22
„Die Urwut ist ein Motor des Menschen“
Jessica Weisskirchen über ihre Inszenierung des „Woyzeck“ – Premiere 09/22
„Aufklärerisch mit großem Unterhaltungswert“
Regisseur Peter Konwitschny über seine Arbeit am „Ring des Nibelungen“ – Interview 07/22
Baum der Heilung
„Umuko“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 03/25
Tanzen bis zum Umfallen
46. Duisburger Akzente – Festival 03/25
Kabarett, Cochem-Style
„Zu viele Emotionen“ von Anna Piechotta in Bottrop – Bühne 03/25
Gewinnen um jeden Preis?
„Alle spielen“ im Studio des Dortmunder Theaters – Prolog 03/25
„Ich liebe die Deutungsoffenheit“
Regisseur Roland Schwab über „Parsifal“ am Essener Aalto-Theater – Interview 03/25
„Die Kraft des Buchs besteht in der Aufarbeitung“
Bettina Engelhardt inszeniert Bettina Flitners Roman „Meine Schwester“ am Essener Grillo-Theater – Premiere 03/25
Was wirklich in den Sternen steht
„Liv Strömquists Astrologie“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Prolog 02/25
Tanzende Seelen
„Dips“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 02/25
„Eine Frau, die förmlich im Leid implodiert“
Regisseurin Elisabeth Stöppler über „Lady Macbeth von Mzensk“ in Düsseldorf – Interview 02/25
Nichts für Konfirmand:innen?
„Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ in Bochum – Prolog 02/25
„Die perfekte Festung ist das perfekte Gefängnis“
Ulrich Greb inszeniert Franz Kafkas „Der Bau“ am Schlosstheater Moers – Premiere 02/25
Wenn Hören zur Qual wird
„The Listeners“ in Essen – Prolog 01/25
Zwischen Realität und Irrsinn
„Kein Plan (Kafkas Handy)“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Prolog 01/25