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Soziologe Andreas Kemper entspricht fast demBild eines Rebellen
Foto: Anna Lenkewitz

Wo Alternative drauf steht, muss keine drin sein

30. April 2014

Soziologe Andreas Kemper klärt im Bahnhof Langendreer über die AfD auf

18.30 Uhr – Wo sind die Horden junger Menschen mit langen Haaren, antifaschistischen Emblemen auf Rucksack und Lederjacke und Plakaten mit rebellischen Parolen? Vielleicht hatte ich vorab ein wenig zu viel erwartet. Die zu meiner Zeit von Jura- und BWL-Studenten betitelten „linksradikalen langhaarigen Bombenleger“ (alias Politikwissenschaftler und Historiker), wie ich sie aus meiner Studienzeit in Marburg kenne, sind wohl leider ausgestorben. Stattdessen bekomme ich die „Antifaschistischen Bochumer Blätter“ in die Hand gedrückt, ausgeteilt von einem Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), die Mitveranstalter des heutigen Vortrags sind – wenigstens jetzt spüre ich eine leichte revolutionäre Stimmung in mir: Lasset den Abend beginnen.

Und da: Einer entspricht tatsächlich fast meinem Bild eines Rebellen, wie ich sie noch von damals kenne. Andreas Kemper, der Referent des Abends, hat lange Haare, einen Vollbart und trägt ein buntes Hemd, das irgendwie an Batik erinnert. Seit seiner Studienzeit ist der Publizist, Soziologe und Blogger schon politisch engagiert. Kemper gründete das bundesweit erste AStA-Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende, arbeitete in der profeministischen Männerbewegung mit und befasst sich mit Themen wie Klassismus oder der deutschen Männerrechtsbewegung. Heute berichtet er also über die Partei, die seit 2013 in Deutschland für gemischte Gefühle sorgt: die Alternative für Deutschland (AfD).

Kemper ist ein Kenner der Materie, das merkt man, wenn man ihn sprechen hört. Sein Buch „Rechte Euro-Rebellion“ entstand noch vor dem ersten Parteitag der AfD. Selten habe ich einen Vortrag erlebt, der mit so vielen Namen und Orten gespickt war und ohne großartige Hilfsmittel gehalten wurde. Über eine Stunde lang berichtet Kemper über die Partei, die nicht gewachsen, sondern ‚von oben‘ installiert wurde. Seine Kernthese, dass es in der AfD zwei Strömungen gibt, die das Bild der Partei zurzeit prägen, beweist Kemper auf plausible Weise. So unterstützt er die Ansichten vieler, dass die AfD rechtspopulistische Strömungen in sich vereint. Gleichzeitig weist er aber darauf hin, dass durch die ausschließliche Fokussierung auf den Rechtspopulismus andere wichtige Tendenzen innerhalb der Partei nicht erkannt oder als für zu unwichtig eingestuft würden. Die zweite, als neoliberal charakterisierte Strömung sieht Kemper um den stellvertretenden Sprecher der AfD, Hans Olaf Henkel, der interessanterweise, wie der Referent ausführt, die „Ruck-Rede“ von Bundespräsident a. D. Roman Herzog als seinen Erweckungsmoment gesehen habe.


Kenner der AfD: Referent Andreas Kemper. Foto: Anna Lenkewitz

Dass die AfD deutliche Verfassungsbrüche begeht, untermauert Kemper mit Zitaten aus Artikeln aus „Der Welt“, so beispielsweise von dem Mitbegründer der AfD, Konrad Adam, der am 20. Mai 2006 den Artikel „Warum soll ich für Sie bezahlen?“ veröffentlichen ließ. Darin wetterte Adam gegen Erwerbslose, Behinderte, Rentner und Studenten, die es „als ihr gottgewolltes Recht betrachten, von dem zu leben, was andere für sie aufbringen müssen“. Ferner, so zitiert Kemper aus einem weiteren Adam-Artikel vom 16. Oktober 2006, solle man den „sogenannten Nettostaatsprofiteuren das Wahlrecht […] entziehen. In diese Kategorie gehören […] nicht nur die Beamten, die im Staat ihren Arbeitgeber sehen, und nicht nur alle diejenigen, die weniger für die Politik als von der Politik leben, die Mehrzahl der Berufspolitiker also, sondern auch und vor allem die Masse der Arbeitslosen und der Rentner.“ Der Referent macht deutlich, dass die AfD bestrebt ist, die parlamentarische Demokratie zu beschneiden, wenn nicht gar gänzlich abzuschaffen. Als Beispiel nennt er die von Hermann Behrendt entwickelte Real-Utopie, in der der Verfasser für eine „Mandative Demokratie“ eintritt, die Abschaffung des Parlaments und die Zurückdrängung der großen Parteien fordert. Vor allem die Einführung des direkten Wahlrechts wird von den Mitgliedern der Partei vertreten, mit dem Wunsch und aus der Überzeugung heraus, die bislang unpopulären Ideen der Partei salonfähig machen zu können.

Detailgetreu und mit vielen Hinweisen versehen, stellt Kemper nacheinander die Kandidaten vor, die zur kommenden Europawahl aufgestellt sind. Neben Bernd Lucke, Bernd Kölmel und Marc Jongen präsentiert er unter anderem auch Alexander Gauland, der sich vor allem in letzter Zeit im Rahmen der Berichterstattung über die Krise in der Ukraine hervorgetan hat. Gauland sei in der Partei der Mann für die außenpolitischen Zielsetzungen, berichtet Kemper. Er wäre russlandfreundlich und ein Bismarck-Liebhaber, folge er doch dem Motto des einstigen „Eisernen Kanzlers“, der in einer Rede im Rahmen des preußischen Verfassungskonfliktes (1862) mit „Eisen und Blut“ und nicht mit „Majoritätsbeschlüssen und Reden“ regieren wollte.

Über eine Stunde lang trägt Kemper vor, die Präsentation ist dicht, voller Rückbezüge auf historische Momente wie die erwähnte Bismarck-Rede und Namen, die es für Außenstehende ein wenig mühsam machen, immer direkt zu folgen. Am Ende des Vortrags bin ich bestürzt, dass sich eine Partei wie die AfD etablieren konnte. Kemper stuft sie als nationalliberal ein, erklärt, dass die zwei Strömungen innerhalb der Partei für Uneinigkeit sorgen, die die Partei als „echte“ Partei noch schwächeln lassen, dass die Rechtspopulisten innerhalb der Partei eine kleine Gruppierung sind, die versuchen, gegen die neo-liberal eingestellte Führungsriege vorzugehen. Doch was, wenn sich die AfD schließlich als Partei gefunden hat? Gerade, dass so viele Wähler aus dem gehobenen Mittelstand kommen, macht zumindest mir ein wenig Sorgen.

So gehe ich denn nach Hause, den Kopf voller Gedanken über das, was die Existenz von Parteien wie die AfD für Deutschland bedeuten. Kemper erklärt die Gründung mit der sogenannten „Nützlichkeitsdiskriminierung“, der Tendenz also, dass die Verrohung des Bürgertums zunimmt und man sich massiv ‚nach unten‘ abgrenzen will, aus Angst vor Herabstufung und Statusverlust. Ein plausibler Gedanke, wenn man sich überlegt, dass Deutschland schon seit Jahren alleine dem Leistungsprinzip, ohne Rücksicht auf Verluste, folgt. So bleibt nur zu hoffen, dass die Wählerinnen und Wähler bei der anstehenden Europawahl nachdenken, bevor sie ihr Häkchen setzen, denn wo Alternative drauf steht, muss noch lange keine Alternative drin sein.

Anna Lenkewitz

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