Lust an Gewalt – Wer das in der Ich-Form von sich gibt, wird wohl keine wohlwollenden Blicke ernten. Dabei scheinen wir alle Gewalt zu genießen, in Horror- oder Actionfilmen, Computerspielen, True-Crime-Podcasts oder Pornographie. Dem möglichen Ausgangspunkt dafür widmete sich das Kulturwissenschaftliche Institut Essen (KWI) unter dem Titel „Gewaltlust 1900 – Zur Herausbildung eines modernen Gefühls“ am Dienstagabend. Eingeladen dazu waren Iris Därmann, Kulturwissenschaftlerin an der HU Berlin und Roland Spalinger, Literaturwissenschaftler an der Universität Zürich.
Moderiert wurde der Abend von Roxanne Phillips und Morten Paul vom KWI. Letzterer leitete ein, indem er auf die Bedeutung der Jahrhundertwende um 1900 mit Blick auf Gewaltlust verwies. Es gebe eine kulturelle Dimension der Gewaltlust und die sei „uns deutlich näher, als uns lieb ist“. Er erinnerte an Sigmund Freuds „Totem und Tabu“, in welchem dieser ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges spekulierte, dass Gewaltlust erst Kultur ermöglicht habe, diese aus einem Schuldgefühl an dieser Lust entstanden sei. Weitere beispielhafte Werke seien Robert Musils Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“. Ist Gewaltlust also ein modernes Phänomen?
Sexualität und Herrschaft
In seinem Kurzvortrag „Weiblich codierter Masochismus in Literatur und Theorie um 1900“ beantwortete Spalinger diese Frage nicht. Er lieferte einen historischen Abriss, demzufolge damals in der heteronormativen Beziehung dem Mann die Rolle des Sadisten und der Frau die der Masochistin zugeschrieben wurden. Der Psychiater Richard von Krafft-Ebing hatte 1886 in seiner Schrift „Psychopathia sexualis“ davon gesprochen, dass der Mann beim Sexualakt der Sieger seien müsse, die Frau die Besiegte. Dieser aggressive Stil des Mannes habe eine hohe psychologische Bedeutung und Tragweite. Diese Stelle allein wäre es wert gewesen, den Bogen ins Heute zu schlagen, etwa anhand der Frauenfeindlichkeit der Incel-Bewegung oder der Tate-Brüder – statt sich damit zu begnügen, reflexhaft ins Kopfschütteln und Empören über die massive Frauenfeindlichkeit einer vergangenen Gesellschaft und Wissenschaft einzustimmen.
Iris Därmanns Kurzvortrag „Sadismus mit und ohne Sade“ handelte von einer vermeintlich komplementären Seite. Auf die Schriften des Marquis de Sade (1740-1814) geht der Begriff des Sadismus zurück. Därmann interpretiert diesen neu, nämlich dass de Sade sich damit gegen die Gewalt in den europäischen Kolonien wendete, statt gegen die Indigenen, denen die Gewalt widerfuhr. Sie schlug eine Brücke von de Sade zur Pornographie und deren Genres wie Pet-Play, wo es ebenfalls um Pet-and-Owner-Beziehungen gehe sowie zu BDSM-Kulturen und Femdom (female dominance). Auch hier gehe es letztlich um Herrschende und Beherrschte.
Die Peitsche als Gemeinsamkeit
Ein Mittel sei dabei besonders bedeutend: die Peitsche. Sie habe eine herausragende Bedeutung in der Kolonialgeschichte sowie gewissen Formen von (pornografischer) Sexualität. Sie sei darüber hinaus das Mittel der Wahl gewesen, mit welchem KZ-Häftlinge von der SS bestraft wurden. Sie verwies auf Jean Améry, der sich gegen Hannah Arendts Einschätzung des NS-Regimes als totalitaristisch gewandt hatte, denn für ihn war es ein vor allem sadistisches Regime. Nicht, dass die Nazis eine große Gruppe sadistischer Einzeltäter:innen waren, Sadismus sei vielmehr ein konstitutives Element des NS-Staates. Morten Paul nannte dies die „Banalität des Sadismus“ in Anlehnung an Arendts berühmte „Banalität des Bösen“.
Eine Zuschauerin stellte abschließend die Frage, die tatsächlich nicht beantwortet wurde, was denn nun das spezifisch Moderne an der Gewaltlust sei. Spalinger antwortete ausweichend, um 1900 sei ein Umschlagpunkt gewesen, mit neuer Begriffsbildung von Masochismus und Sadismus und fragte: „Wäre das 20. Jahrhundert denkbar, ohne diese spezifische Festschreibung?“
Ist Gewaltlust modern?
Därmann hatte zuvor auf eine Frage zur Gewalt antiker Gladiatorenspiele festgehalten, dass es in der Antike um Lust an Macht und Grausamkeit gegangen sei, aber nicht um sexuelle Lust. „Das ist die entscheidende Differenz.“ Das ist allerdings eine gewagte These, wenn man beispielsweise an die Mythologie der europäischen Antike denkt: Schließlich wenden die griechischen und römischen Götter und Göttinnen dauernd Gewalt an, um ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Und diese Mythen stammen von Menschen.
Der Diskussionsabend war von einer extremen Dichte geprägt und blieb hauptsächlich in der Historie. Das ist tatsächlich sehr interessant, aber leider kommt dabei die Gegenwart zu kurz. Die abschließende Frage des Ankündigungstextes, „Lässt sich ausgehend von den Verhandlungen von Gewaltlust am Anfang des 20. Jahrhunderts auch ein neues Licht auf unsere Gegenwart werfen?“, wurde kaum bis gar nicht beantwortet. Genauso wenig wie die eingangs erwähnten Computerspiele oder Filme eine Rolle spielten.
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