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Lea Liese, Felix Schilk und Moderator Morten Paul
Foto: KWI/eventfotograf.in

Die Rechte erzählt sich gerne was

16. Juni 2025

Diskussion über rechte Ideologie und Strategie im KWI Essen – Spezial 06/25

„Großer Bevölkerungsaustausch“, „Jüdische Weltverschwörung“, „Untergang des Abendlandes“, „Hillary Clinton trinkt Kinderblut“, „Angela Merkel ein Echsenmensch“ – es gibt keine Behauptung, die der Neuen Rechten als zu absurd erscheint. Beim Podiumsgespräch „Lust am Untergang – Die Rechte als Erzählgemeinschaft“ im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) spürten die Literaturwissenschaftlerin Lea Liese und der Soziologe Felix Schilk diesen Erzählungen nach. Liese forscht an der Uni Basel unter anderem zum Verhältnis von Literatur und Politik und zur Demokratietheorie, Schilk forscht an der Uni Tübingen zur Ideologie und Strategie der Neuen Rechten. Moderiert wurde der Abend von Morten Paul, wissenschaftlicher Mitarbeiter am KWI.

Dauerklage des Niedergangs

Ob es eine Erzählgemeinschaft der Rechten gebe und Erzählungen das Mittel der extremen rechten Politik, wollte Paul wissen. Schilk entgegnete, dass dies zwei verschiedene Dinge seien. Anders als liberales Denken, das von Werten geprägt sei, sei die Politik in der Welt der Rechten durch Macht bestimmt. Danach herrsche ein ständiger Niedergang, eine Décadence, es müsse immer gegen den vermeintlichen Verlust moralischer Werte oder wirtschaftlicher Stärke gekämpft werden – ein Niedergang auch durch den Liberalismus und seinen Siegeszug in der Moderne; ein Feindbild rechten Denkens seit der Französischen Revolution. Das ursprünglich konservative Décadence-Narrativ habe die Neue Rechte übernommen. Ungeklärt blieb an dieser Stelle, warum Bezüge wie Heimat, Tradition oder Familie, die landläufig von Rechten als Werte genannt werden, doch keine Wert seien; dass sie aus linker Sicht als sehr fragwürdig gelten, mag eine verbreitete Intuition sein, dennoch wäre mehr dazu zu sagen gewesen.

Große und kleine Geschichten

Ihre Macht zeige die Neue Rechte durch begriffliche Paradoxa wie „Alternative Fakten“, erklärte Liese. Fakt und Fiktion gebe es natürlich auch in der Literaturwissenschaft, jedoch mit Spielregeln und unter Beachtung des Kontextes. Eigentlich nutze die Neue Rechte Begriffe und ggf. Methoden der Literaturwissenschaft, allerdings ohne sich an die Spielregeln zu halten. „Der Kontext soll nicht mehr gesehen werden. In diesem Zusammenhang kommt es zur Beugung von Fakt und Fiktion.“ Der Deutungsanspruch, was Realität ist, bestimme ihr Vorgehen, nicht die Wahrheit des Diskurses. Schilk erinnerte an die Auffassung des umstrittenen Staats- und Völkerrechtlers Carl Schmitt (1888-1985), Souverän sei, wer über den Ausnahmezustand bestimme – Machtdenken in Reinform. Das lässt sich tagesaktuell verfolgen anhand des Einsatzes der Nationalgarde in Kalifornien durch den US-amerikanischen Präsidenten Trump. Es kommt auch zum Ausdruck in neurechten Erzählungen über einen „Deep State“ oder „die Eliten“. Hieran kann man auch Lieses Unterscheidung zwischen Story und Narrativ veranschaulichen: Ein großes Narrativ wird mit kleinen Stories gefüllt.

Konservative Übernahme

Schilk verwies auf das Narrativ „Deep State“ und wie es von der Neuen Rechten gegen politische Gegner verwendet wird: Gegen die Gülenbewegung bei den Gezi-Park-Protesten in der Türkei, in Ungarn gegen zivile Stiftungen des US-amerikanischen Investor George Soros, in Rumänien gegen das Netzwerk der Altkommunisten und -kommunistinnen innerhalb der sozialdemokratischen Partei. Ebenfalls führt die Neue Rechte einen dauernden Angriff auf die Zivilgesellschaft in Form von Nichtregierungsorganisationen (NGO). Das tun mittlerweile auch die Konservativen, wenn ihnen die Politik der NGOs nicht gefällt. Man denke nur an die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und ihrer Befürchtung, dass NGOs in Deutschland „Schattenstrukturen“ darstellen und mit staatlichen Geldern indirekt Politik betreiben würden.

Möglichkeit statt Wahrheit

Dies schaffe die Neue Rechte durch eine Affektbesetzung ihrer Erzählungen, so Liese. Die Suggestivkraft wiederholter Szenarien führe zu Schemabildung. Sie verbinde Informationen mit Affekten, die kognitionspsychologisch an der gleichen Stelle im Gehirn verarbeitet würden. Darüber hinaus arbeite sie mit sozialen Figuren, wie Schilk ausführte. Die „woke Aktivistin“, der „gendernde Großstädter“, der nur „vegetarisch oder vegan“ esse. Man zeichne ein klischeehaftes Bild, das die eigene Identität eben gegen jene Klischees abgrenze. Zudem arbeite die Neue Rechte bevorzugt mit Anekdoten. Liese: „Dabei geht es um Authentizität und Möglichkeit. Wenn ich das überzeugend vortragen kann, es hätte sich ja so abspielen können. Diese kleinen Erzählungen operieren mit Wahrscheinlichkeit statt Wahrheit.“

Linker Tunnelblick

In diesem grundsätzlich sehr gelungenen Podiumsgespräch fehlte etwas: die Frage, was die Erzählungen der Linken von denen der Rechten unterscheidet. Das wurde vom Publikum jedoch in der anschließenden Diskussion kritisch angemerkt. Dass die auf dieser Seite ebenso genutzten klischeebeladenen sozialen Figuren, beispielsweise des „bösen SUV-Fahrers“ oder des „bösen Fleischessers“, weniger ausgrenzend seien als die der woken Aktivistin oder des gendernden Großstadtbewohners, wie Schilk behauptete, lässt sich eigentlich nur mit einem Tunnelblick erklären – und mit dem eigenen Wertekompass. An dieser Stelle fanden die beiden Gäste nicht wirklich überzeugende Argumente und der Moderator übernahm mehr und mehr Redezeit. Einen wichtigen Punkt betonte Schilk jedoch abschließend: „Die Rechten suchen keine Lösungsstrategien, nur Modi zur Mobilisierung.“

Paul Tschierske

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