„Großer Bevölkerungsaustausch“, „Jüdische Weltverschwörung“, „Untergang des Abendlandes“, „Hillary Clinton trinkt Kinderblut“, „Angela Merkel ein Echsenmensch“ – es gibt keine Behauptung, die der Neuen Rechten als zu absurd erscheint. Beim Podiumsgespräch „Lust am Untergang – Die Rechte als Erzählgemeinschaft“ im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) spürten die Literaturwissenschaftlerin Lea Liese und der Soziologe Felix Schilk diesen Erzählungen nach. Liese forscht an der Uni Basel unter anderem zum Verhältnis von Literatur und Politik und zur Demokratietheorie, Schilk forscht an der Uni Tübingen zur Ideologie und Strategie der Neuen Rechten. Moderiert wurde der Abend von Morten Paul, wissenschaftlicher Mitarbeiter am KWI.
Dauerklage des Niedergangs
Ob es eine Erzählgemeinschaft der Rechten gebe und Erzählungen das Mittel der extremen rechten Politik, wollte Paul wissen. Schilk entgegnete, dass dies zwei verschiedene Dinge seien. Anders als liberales Denken, das von Werten geprägt sei, sei die Politik in der Welt der Rechten durch Macht bestimmt. Danach herrsche ein ständiger Niedergang, eine Décadence, es müsse immer gegen den vermeintlichen Verlust moralischer Werte oder wirtschaftlicher Stärke gekämpft werden – ein Niedergang auch durch den Liberalismus und seinen Siegeszug in der Moderne; ein Feindbild rechten Denkens seit der Französischen Revolution. Das ursprünglich konservative Décadence-Narrativ habe die Neue Rechte übernommen. Ungeklärt blieb an dieser Stelle, warum Bezüge wie Heimat, Tradition oder Familie, die landläufig von Rechten als Werte genannt werden, doch keine Wert seien; dass sie aus linker Sicht als sehr fragwürdig gelten, mag eine verbreitete Intuition sein, dennoch wäre mehr dazu zu sagen gewesen.
Große und kleine Geschichten
Ihre Macht zeige die Neue Rechte durch begriffliche Paradoxa wie „Alternative Fakten“, erklärte Liese. Fakt und Fiktion gebe es natürlich auch in der Literaturwissenschaft, jedoch mit Spielregeln und unter Beachtung des Kontextes. Eigentlich nutze die Neue Rechte Begriffe und ggf. Methoden der Literaturwissenschaft, allerdings ohne sich an die Spielregeln zu halten. „Der Kontext soll nicht mehr gesehen werden. In diesem Zusammenhang kommt es zur Beugung von Fakt und Fiktion.“ Der Deutungsanspruch, was Realität ist, bestimme ihr Vorgehen, nicht die Wahrheit des Diskurses. Schilk erinnerte an die Auffassung des umstrittenen Staats- und Völkerrechtlers Carl Schmitt (1888-1985), Souverän sei, wer über den Ausnahmezustand bestimme – Machtdenken in Reinform. Das lässt sich tagesaktuell verfolgen anhand des Einsatzes der Nationalgarde in Kalifornien durch den US-amerikanischen Präsidenten Trump. Es kommt auch zum Ausdruck in neurechten Erzählungen über einen „Deep State“ oder „die Eliten“. Hieran kann man auch Lieses Unterscheidung zwischen Story und Narrativ veranschaulichen: Ein großes Narrativ wird mit kleinen Stories gefüllt.
Konservative Übernahme
Schilk verwies auf das Narrativ „Deep State“ und wie es von der Neuen Rechten gegen politische Gegner verwendet wird: Gegen die Gülenbewegung bei den Gezi-Park-Protesten in der Türkei, in Ungarn gegen zivile Stiftungen des US-amerikanischen Investor George Soros, in Rumänien gegen das Netzwerk der Altkommunisten und -kommunistinnen innerhalb der sozialdemokratischen Partei. Ebenfalls führt die Neue Rechte einen dauernden Angriff auf die Zivilgesellschaft in Form von Nichtregierungsorganisationen (NGO). Das tun mittlerweile auch die Konservativen, wenn ihnen die Politik der NGOs nicht gefällt. Man denke nur an die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und ihrer Befürchtung, dass NGOs in Deutschland „Schattenstrukturen“ darstellen und mit staatlichen Geldern indirekt Politik betreiben würden.
Möglichkeit statt Wahrheit
Dies schaffe die Neue Rechte durch eine Affektbesetzung ihrer Erzählungen, so Liese. Die Suggestivkraft wiederholter Szenarien führe zu Schemabildung. Sie verbinde Informationen mit Affekten, die kognitionspsychologisch an der gleichen Stelle im Gehirn verarbeitet würden. Darüber hinaus arbeite sie mit sozialen Figuren, wie Schilk ausführte. Die „woke Aktivistin“, der „gendernde Großstädter“, der nur „vegetarisch oder vegan“ esse. Man zeichne ein klischeehaftes Bild, das die eigene Identität eben gegen jene Klischees abgrenze. Zudem arbeite die Neue Rechte bevorzugt mit Anekdoten. Liese: „Dabei geht es um Authentizität und Möglichkeit. Wenn ich das überzeugend vortragen kann, es hätte sich ja so abspielen können. Diese kleinen Erzählungen operieren mit Wahrscheinlichkeit statt Wahrheit.“
Linker Tunnelblick
In diesem grundsätzlich sehr gelungenen Podiumsgespräch fehlte etwas: die Frage, was die Erzählungen der Linken von denen der Rechten unterscheidet. Das wurde vom Publikum jedoch in der anschließenden Diskussion kritisch angemerkt. Dass die auf dieser Seite ebenso genutzten klischeebeladenen sozialen Figuren, beispielsweise des „bösen SUV-Fahrers“ oder des „bösen Fleischessers“, weniger ausgrenzend seien als die der woken Aktivistin oder des gendernden Großstadtbewohners, wie Schilk behauptete, lässt sich eigentlich nur mit einem Tunnelblick erklären – und mit dem eigenen Wertekompass. An dieser Stelle fanden die beiden Gäste nicht wirklich überzeugende Argumente und der Moderator übernahm mehr und mehr Redezeit. Einen wichtigen Punkt betonte Schilk jedoch abschließend: „Die Rechten suchen keine Lösungsstrategien, nur Modi zur Mobilisierung.“
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die Unschärfe der Jugend
Diskussion über junge Literatur im Essener KWI – Literatur 04/25
Opferbereit gegen das System
Dokumentarfilm „Algier – Hauptstadt der Revolutionäre“ im Essener KWI – Film 02/25
Fotograf Sebastião Salgado – der falsche Friedenspreisträger? Spannende Diskussion in Essen
Fotograf Sebastião Salgados Werk diskutiert in Essen – Kunst 11/19
Die Krux mit dem Schoko-Kirsch-Brownie-Tee
Vortrag: „Convenience. Konsumwelt als kleines Gefühl" am 4.12. im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen – Spezial 12/18
Where’s the problem?
Vortrag mit Diskussion „Europa nach der Migrationskrise?“ am 20.6. im KWI Essen – Spezial 06/18
Popcorn, Positivismus, Patriarchat
Filmstudio Glückauf und KWI Essen luden am 12.12. ein zur Diskussion über WissenschaftlerInnen im Film – Foyer 12/17
Boomerang Flüchtlingskrise
Politologin Gesine Schwan spricht im KWI Essen über die europaweite Verteilung von Flüchtlingen – Spezial 11/17
Im Spiegel der Geschichte
Die Ausstellung „Die Rosenburg“ im Bochumer Fritz Bauer Forum – Spezial 06/25
Kriegstüchtig und friedfertig
Diskussion über europäische Sicherheitspolitik in Dortmund – Spezial 06/25
Ein Leuchtturm für Demokratie und Menschenrechte
Eröffnung des Bochumer Fritz Bauer Forums – Spezial 06/25
Das Internet entgiften
Workshop zu Hassrede in der VHS Essen – Spezial 05/25
Auslöschen der Geschichte
Diskussion über Erinnerungskultur in Argentinien im Bochumer Fritz-Bauer-Forum – Spezial 04/25
Mythos des Widerstands
Die Lesung „Das deutsche Alibi“ in Bochum – Spezial 04/25
Klasse der Marginalisierten
Vortrag über Armut in der VHS Essen – Spezial 03/25
Neue Bündnisse, alte Krisen
Online-Diskussion „Wie weiter nach der Bundestagswahl?“ – Spezial 02/25
Deckeln gegen die Mietbelastung
Online-Diskussion „Sind die Mieten noch zu bremsen?“ – Spezial 01/25
Was erreicht worden ist
Warum Nostalgie auch in die Zukunft weist – Spezial 01/25
Ehrung für ein Ruhrgebiets-Quartett
Verleihung des Brost-Ruhr-Preises 2024 in Bochum – Spezial 11/24
Klimaschutz = Menschenschutz
„Menschenrechte in der Klimakrise“ in Bochum – Spezial 11/24
Digitalisierung 2.0
Vortrag über KI in der VHS Essen – Spezial 10/24
Minimal bis crossmedial
Rekorde und Trends auf der Spiel Essen – Spezial 10/24
KI, eine monströse Muse
12. Kulturkonferenz Ruhr in Essen – Spezial 09/24
Wurzeln des Rechtsextremismus
Online-Vortrag „Ist die extreme Rechte noch zu stoppen?“ – Spezial 09/24
Wem gehört die Ökosphäre?
Seminar „Die Rechte der Natur“ in der VHS Dortmund – Spezial 05/24
Stimmen der Betroffenen
Vortrag über Israel und Nahost in Bochum – Spezial 04/24