Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
24 25 26 27 28 29 30
1 2 3 4 5 6 7

12.630 Beiträge zu
3.852 Filmen im Forum

Diskutieren im KWI über Erinnerungspolitik: Hanna Engelmeier, Jens-Christian Wagner und Tim Schanetzky (v.l.)
© KWI, Eventfotograf.in

Das ewige Ringen um die Demokratie

24. November 2025

Podiumsgespräch im KWI Essen – Spezial 11/25

Kann der Aufstieg von Rechtsextremisten und Verschwörungsgläubigen durch politische Bildung gestoppt werden? Diesen und anderen Fragestellungen ging das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI) Essen nach. Der Autor und Mitarbeiter des KWI, Tim Schanetzky, diskutierte mit dem Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, Jens-Christian Wagner darüber, wie durch eine „Politik der politischen Bildung“ die gefühlte Dauerkrise der Demokratie überwunden werden kann.

„Die extreme Rechte denunziert politische Bildungsarbeit als Propaganda oder spricht von einer Neutralitätspflicht des Staates“, hieß es in der Ankündigung zur Veranstaltung. Doch nicht nur von dort kommt Gegenwind. Moderatorin Hanna Engelmeier verweist zur Eröffnung auf einen Artikel des konservativen Historikers Peter Hoeres, der am Tag der KWI-Veranstaltung in der Tageszeitung Die Welt erschienen war. Schon der Titel „So denkt Deutschlands neuer Chefideologe“ kann als Frontalangriff auf die Bundeszentrale für politische Bildung gelten und outet den Autor selbst als Ideologen eines radikalisierten Konservatismus. Der neue Präsident der Bundeszentrale, Sönke Rix, falle laut Hoeres bislang „vor allem „durch Hetze gegen ‚rassistische Ressentiments‘ der Union auf. Umso erschütternder, dass CSU-Innenminister Alexander Dobrindt den linken Sozialdemokraten zum Chef der Bundeszentrale für politische Bildung ernennt – mit 100-Millionen-Euro-Etat“.

Jens-Christian Wagner will sich der Kritik zwar nicht anschließen und weiss den Angriff zurück, er finde es aber grundsätzlich problematisch, wenn das Gedenken durch Parteipolitik überschattet werde. „In den Stiftungsgesetzen haben wir deutlich gemacht, dass wissenschaftliche Expertise die zentrale Rolle spielt“, so Wagner. Die Stiftungen der Gedenkstätten seien in den 1990er Jahren gegründet worden. In dieser Zeit habe es massive geschichtspolitische Debatten um die Ausrichtung der Gedenkstättenarbeit gegeben. Letztlich habe sich die Politik zugunsten der Wissenschaft zurückgezogen.

Reeducation und Kulturkämpfe

In der politischen Bildung sah dies anders aus. Die Bundeszentrale sei anfangs eine mehr oder weniger „reinrassige CDU-Bastion“ gewesen, sagt Tim Schanetzky. Mit Paul Franken sei allerdings ein Direktor ins Amt gekommen, der auch in seiner inneren Exilzeit zu Adenauer gehalten habe. Wichtig sei es für ihn gewesen, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den Fokus zu rücken. In Zeiten, in denen die NS-Verbrechen verdrängt oder revidiert wurden, war das eine durchaus mutige Entscheidung.

Die Akteure in der politischen Bildung seien häufig überhaupt keine lupenreinen Demokraten gewesen, sie hätten aber sehr genau gewusst, was sie nicht haben wollten, „nämlich Reeducation“, so Schanetzky. „Sie wollten etwas eigenes, was Deutsches haben, was man dieser verhassten Umerziehung durch die Besatzungsmächte dann entgegenstellt.“

Konfrontation mit den Verbrechen

Er vereist auf die sogenannten Kriegsendphaseverbrechen, die sich im Frühjahr 1945 noch in den allerletzten Tagen des Vormarsches der alliierten Truppen ereignet haben. Die Alliierten haben später vielerorts Bürgermeister des Kreises aufgefordert, ihre Einwohner zu den Tatorten zu führen. Deutsche Bürger wurden gezwungen, sich das Ausmaß der Verbrechen anzuschauen. „In Weimar sind etwa 1.000 Anwohner auf den Ettersberg gebracht worden.Sie mussten darüber laufen und sich das gerade befreite Lager Buchenwald anschauen“, so Schanetzky. Auf eine derartige Konfrontation wollten die Gründer der politischen Bildung verzichten. Erst die Gedenkstätten haben das wieder aufgegriffen, wenngleich nicht in der direkten Konfrontation mit den Opfern.

Schanetzky erinnert daran, dass angesichts des aktuellen Streits um „milliardenschwere Förderprogramme“ leicht in Vergessenheit gerate, „dass schon seit 1945 um die Demokratisierung der Deutschen gerungen wird“. Der Streit habe mit der „alliierten Reeducation“ begonnen und „erlebte im Kalten Krieg einen ersten Höhepunkt“. Weitere Fixpunkte sind die Auswirkungen von „Achtundsechzig“, die „politische Tendenzwende“ der 1980er Jahre oder die „Kulturkämpfe“ der Gegenwart, die in eine vermeintliche oder tatsächliche „Krise der Demokratie“ münden. Auf diese Aspekte geht er auch in seinem kürzlich erschienenen Buch „Politik der politischen Bildung. Das Ringen um die Demokratisierung der Deutschen seit 1945“ ein.

Erinnerungskultur unter Beschuss

Anfang der 1980er Jahre wurde die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auch in der politischen Bildung immer wichtiger, auch wenn es weiter Widerstände gab. „Im Gefolge der Fernsehserie „Holocaust“, wird bei der Bundeszentrale sehr intensiv darüber nachgedacht, den Rechtsradikalismus stärker zu bekämpfen und dafür ein Sonderprogramm aufzulegen.“ Unter anderem sei laut Schanetzky schon damals überlegt worden, eine Gedenkstättenstiftung einzurichten. Dies sei aber am Widerstand der CDU-Opposition im Finanzausschuss gescheitert und auch an der mangelnden Unterstützung durch das Innenministerium, das damals von Gerhard Baum, eigentlich ein Linksliberaler in der FDP, geleitet wurde. „Dieser stand aber offenbar schon mit Blick auf die Bundestagswahl 1980 auf der Bremse“, so Schanetzky.

Seit der Wiedervereinigung rückt die direkte politische Konfrontation vor allem mit Rechtsextremisten in den Fokus. Hierunter leiden besonders die Gedenkstätten. Jens-Christian Wagner berichtet, dass die Gedenkstätte Buchenwald ein „beliebtes“ Ziel militanter Neonazis und anderer Rechtsextremisten und Antisemiten sei. „Wir haben es mit einem starken Anstieg rechtsextrem motivierter Übergriffe auf die Gedenkstättenarbeit zu tun oder auch mit Anfeindungen gegen die Gedenkstättenarbeit.“ Das seien nicht immer nur „analoge“ Übergriffe vor Ort, die darin bestehen, dass Gedenktafeln Hinweistafeln mit Hakenkreuzen beschmiert würden, dass jemand mit dem Hitlergruß vor dem Krematoriumsofen posiere und sich dabei fotografieren lasse oder dass Gedenkbäume für die Opfer des KZ Buchenwald abgesägt würden - sondern auch Delikte in digitaler Form. „Das sind auch Kommentare, die unter Social-Media-Posts der Gedenkstätten stehen, beschimpfende Anrufe, E-Mails oder Briefe bis zur Todesdrohung. Ich habe letztes Jahr einen anonymen Brief gekriegt, in dem jemand eine Fotomontage hergestellt hat, auf der ich am Galgen vor dem Lagertor hing und drüber stand: ‚ein Galgen, ein Strick, ein Wagnergenick‘.“

Wagner macht dafür auch die AfD mitverantwortlich, die beim NS-Gedenken eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordere. Die Bedrohungen und Schändungen seien keine Neuentwicklung, sie hätten aber stark zugenommen. Der einzig wirksame Schutz dagegen sei „eine wachsame, geschichtsbewusste und demokratische Gesellschaft mit klarem ethischem Kompass“.

Inhalte werden angepasst

Das zu vermitteln, werde aber immer schwieriger. „Was uns immer große Sorgen macht, ist der Umstand, und das höre ich nicht nur aus Buchenwald und aus Mittelbau-Dora, sondern auch aus Sachsenhausen, dass wir zunehmend mit Schülerinnen und Schülern konfrontiert sind, die ganz offensichtlich nicht nur keine Lust auf den Besuch der Gedenkstätte haben, sondern ostentativ eine Abwehrhaltung an den Tag legen, indem zum Beispiel die halbe Schulklasse dem Guide den Rücken zudreht oder Schüler demonstrativ miteinander tuscheln und Witze machen.“ Dabei handele es sich überwiegend um Schulklassen aus ländlichen Regionen in Ostdeutschland, die dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind. Bei westdeutschen Schulklassen, die einen starken Migrationshintergrund haben, sehe die Sache noch mal anders aus. „Da gibt es dann Probleme mit unpassenden Gleichsetzungen zwischen Gaza und den Holocaust.“

Auch wegen dieser Entwicklungen werden die Formate angepasst. „Unsere Bildungsformate sind so konzipiert, dass sie erstens auf eine gute Vor- und Nachbereitung setzen“, so Wagner. Dies finde leider nicht allzu häufig statt. Außerdem sei man dazu übergegangen, die Mindestdauer der Formate deutlich zu erhöhen. „In Buchenwald sind wir jetzt bei drei Stunden angekommen, in Mittelbau-Dora schon bei vier Stunden.“ Dadurch sei es möglich, die Zielgruppen direkter und persönlicher anzusprechen. „Wir überlegen zudem, ob wir nur noch Tagesangebote und Mehrtageangebote machen, weil alle Evaluationen von Gedenkstättenfahrten ergeben haben, dass kurze Besuche keine Wirkung haben. Wenn jemand mit einem rechtsextremen Weltbild kommt, so diffus es auch sein mag, ist dieses Weltbild nach dem Besuch eher gestärkt.“ Die persönliche Ansprache soll das ändern.

Außerdem wolle man sich nicht nur mit den Opfern beschäftigen, sondern insbesondere auch mit der Frage, warum diese Menschen zu opfern wurden und wer sie zu Opfern gemacht hat: „Wie hat die nationalsozialistische Gesellschaft funktioniert. Wie war die Wechselwirkung zwischen Integrationsangeboten an die Mehrheitsbevölkerung auf der einen und Ausgrenzung, Verfolgung und Mord gegenüber denjenigen, die nicht zur propagierten Volksgemeinschaft gehörten, auf der anderen Seite.“ Dies auf die Gegenwart zu übertragen, sei die größte Herausforderung, so Wagner.

AfD-Regierung als Drohkulisse

Wie geht es weiter: Im kommenden Jahr stehen Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt an, später dann auch in Thüringen, wo mit Björn Höcke ein offen rechtsradikaler Politiker Ministerpräsident werden könnte. Auch die Gedenkstätten könnten davon betroffen sein. Wagner glaubt zwar nicht, dass die AfD so weit gehen würde, die Gedenkstätten zu schließen, mit einer einfachen Mehrheit im Parlament könnte sie aber Einfluss auf Arbeit nehmen. „Sie [Politiker der AfD; Anm. d. Verf.] werden möglicherweise das Stiftungsgesetz ändern und den Stiftungsauftrag anpassen. Und sie werden selbstverständlich, das haben sie auch schon angekündigt, Personal austauschen“, sagt Wagner.

Die Arbeit wird dadurch natürlich erschwert und letztlich könnte das ein wichtiger Schritt in die Richtung sein, die oftmals angekündigte „erinnerungspolitische Wende“ zu vollziehen. Der Spitzenkandidat der AfD in Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, hat erst kürzlich angedeutet, was er darunter versteht. Auf die Frage, ob die NS-Zeit „das Schlimmste der Menschheit“ sei, sagte Siegmund: „Das maße ich mir nicht an zu bewerten, weil ich die gesamte Menschheit nicht aufarbeiten kann.“ Auf einer Partei-Versammlung heizte er das Publikum zudem mit martialischen „Sieg“-Rufen an.

Jugendliche wählen rechts

Umso wichtiger bleibt es, aufzuklären, zumal, wie Wagner erklärt, vor allem die unter 30-Jährigen sich immer weniger für die Geschichte interessierten und einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen möchten. „Wir haben es mit einem massiven Ruck nach Rechtsaußen zu tun, der auch vor jungen Menschen nicht Halt macht - ganz im Gegenteil: Jüngere Menschen wählen stärker die AfD als ältere Menschen.“

Im anschließenden Publikumsgespräch wird das Thema noch einmal aufgegriffen. Die AfD sei noch nicht an der Macht wie etwa die Faschisten in Italien, Orban in Ungarn oder Trump in den USA, wirft ein Mann aus dem Publikum ein: „Vielleicht hat die Arbeit ja doch etwas bewirkt und wir sollten es nicht nur pessimistisch betrachten.“

Tim Schanetzky will dem nur bedingt zustimmen, weil es keine belastbaren Belege dafür gebe. Er sei aber immer wieder auf Akteure der politischen Bildung gestoßen, die ähnliches behauptet hätten. Er zitiert den Leiter der Hamburgischen Landeszentrale für politische Bildung, der Anfang 1970 gesagt hat: „Wegen unserer Arbeit ist die NPD jetzt nicht in den Bundestag eingezogen.“ Empirisch lasse sich das jedenfalls nicht belegen; aber es gibt zumindest ein gutes Gefühl.

Was bleib als Fazit? Politische Bildung und Gedenkstättenarbeit mussten sich seit jeher gegen Kritik und zum Teil existenzielle Angriffe erwehren. Zur Aufklärung über die Angriffe auf die Demokratie in Geschichte und Gegenwart haben sie Entscheidendes beigetragen, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die antidemokratische Einstellungen hervorbringen, haben sie dagegen kaum Einfluss, das zeigte auch das Gespräch im KWI, das diesen Aspekt komplett ausblendete. Umso wichtiger wäre es, ihre Arbeit zu fördern und ihre Position zu stärken, um noch größeren Schaden abzuwenden. Auch wenn es eine Sisyphos-Arbeit ist.

Holger Pauler

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Neue Kinofilme

Wicked: Teil 2

Lesen Sie dazu auch:

Was Menschen sehen wollen
Diskussion am KWI Essen über Kunsterfahrung und Selfiekultur – Spezial 10/25

Schuld und Sadismus
Diskussion am KWI Essen über Lust an der Gewalt – Spezial 07/25

Hab’ ich recht?
Diskussion über Identität und Wissen im KWI Essen – Spezial 06/25

Die Rechte erzählt sich gerne was
Diskussion über rechte Ideologie und Strategie im KWI Essen – Spezial 06/25

Die Unschärfe der Jugend
Diskussion über junge Literatur im Essener KWI – Literatur 04/25

Opferbereit gegen das System
Dokumentarfilm „Algier – Hauptstadt der Revolutionäre“ im Essener KWI – Film 02/25

Fotograf Sebastião Salgado – der falsche Friedenspreisträger? Spannende Diskussion in Essen
Fotograf Sebastião Salgados Werk diskutiert in Essen – Kunst 11/19

Die Krux mit dem Schoko-Kirsch-Brownie-Tee
Vortrag: „Convenience. Konsumwelt als kleines Gefühl" am 4.12. im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen – Spezial 12/18

Where’s the problem?
Vortrag mit Diskussion „Europa nach der Migrationskrise?“ am 20.6. im KWI Essen – Spezial 06/18

Popcorn, Positivismus, Patriarchat
Filmstudio Glückauf und KWI Essen luden am 12.12. ein zur Diskussion über WissenschaftlerInnen im Film – Foyer 12/17

Boomerang Flüchtlingskrise
Politologin Gesine Schwan spricht im KWI Essen über die europaweite Verteilung von Flüchtlingen – Spezial 11/17

trailer spezial.