Der Justizhistoriker Bernd Schmalhausen weiß aus eigener Erfahrung, wie NS-Kontinuitäten in der Essener Justiz auch nach 1945 fortwirkten: Zu Beginn seiner Laufbahn als Staatsanwalt, so berichtet er im Bochumer Fritz-Bauer-Forum, seien ihm von Vorgesetzten einflussreiche ältere Kollegen wie Staatsanwalt Gärtner als Vorbild vorgestellt worden, für Professionalität, Kollegialität – nicht für Verbrechen. Doch Schmalhausen stieß während seiner Recherchen auf eine düstere Wahrheit. Jener Staatsanwalt Gärtner, dessen Ansehen unter Kollegen ungebrochen war, hatte im Jahr 1943 persönlich dafür gesorgt, dass ein litauischer Zivilist wegen Plünderung zum Tode verurteilt wurde. Der Zivilist war auf der Suche nach Nahrung, als er drei Blechnäpfe in einem Trümmerhaus fand. Wenige Tage später wurde er hingerichtet. Nach Kriegsende blieb Gärtner, wie viele andere, unbehelligt im Staatsdienst.
Derartige Schicksale sind keine Einzelfälle. In seinem Vortrag über die Essener Justiz nach dem Nationalsozialismus schildert Schmalhausen, wie wenig personelle Konsequenzen es gab: Rund 6.000 Essener Schutzpolizisten waren, wie Recherchen später belegten, im KZ Sajmište bei Belgrad an Erschießungen beteiligt. Nach dem Krieg stellte man die meisten dieser Polizisten prompt wieder ein, oft ohne jegliche Überprüfung. So blieb die Polizei Essen bis in die 1960er Jahre hinein massiv mit ehemaligen NS-Schutzpolizisten durchsetzt. Auch der frühere Gerichtspräsident Paul Heermann bleibt in Schmalhausens Recherchen nicht ausgespart: Als NS-belasteter Justizfunktionär prangte sein Porträt noch Jahrzehnte später in der Essener Ahnengalerie. Erst nach langem Ringen wurde es entfernt. Schmalhausen berichtete, dass er für seine Nachforschungen und besonders für seinen öffentlichen Hinweis auf Heermann keineswegs Applaus, sondern Widerstand und Ablehnung erntete: In der Gerichtskantine wurde er als „Nestbeschmutzer“ und „radikaler Linker“ beschimpft. Viele Kollegen forderten, man solle „die Vergangenheit doch endlich ruhen lassen“.
Wie sein Buch „Schicksale jüdischer Juristen aus Essen 1933–1945“ setzt sich auch Schmalhausens Vortrag mit den individuellen Opfern und Tätern auseinander. Er beschreibt die lange gescheiterte Aufarbeitung wegen überkommener Strukturen, Ignoranz und Verdrängung: Erst 1999, mehr als 50 Jahre nach Kriegsende, wurde im Foyer des Land- und Amtsgerichts Essen eine Tafel zum Andenken an verfolgte jüdische Juristen installiert. „Viel zu spät“, sagt Schmalhausen, „aber immerhin.“
Bernd Schmalhausen: Schicksale jüdischer Juristen aus Essen 1933-1945 | Pomp, P. | 120 S.
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