Die Wissenschaft als Hort neutraler, objektiver Information. Das von ihr generierte Wissen sollte frei sein von persönlichen Haltungen, Überzeugungen, Meinungen. Lange war die Vorstellung, ein wissenschaftliches Paper könnte ein „Ich“ enthalten, abwegig. Das änderte sich spätestens in den 1980er-Jahren mit dem Begriff der „Situiertheit“, dessen Geschichte der Bochumer Medienwissenschaftler Florian Sprenger in seinem neuen Buch „Ich-Sagen. Genealogie der Situiertheit“ nachgeht. In einer Diskussion am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen stellte er es vor.
Sprenger, seit 2020 Professor für Virtual Humanities an der Universität Bochum, nannte die Robotik der 1980er-Jahre als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Damals habe man sich damit beschäftigt, wie Roboter virtuelle Modelle ihrer Umgebung erzeugen können und sich darin zurechtfinden. Man habe begonnen Roboter als verkörperte, situierte Entitäten wahrzunehmen und den Begriff der Situiertheit in diesem Kontext benutzt. Zudem haben viele Disziplinen in dieser Zeit angefangen, den Begriff zu nutzen: Erziehungswissenschaften, Kulturwissenschaften, Philosophie. „Explodiert ist er dann im Feminismus.“
Kein Blick von nirgendwo
Situiertheit befände sich zwischen den Polen Relationalismus und Abhängigkeit. Auf was bezieht man sich, wovon hängt man ab, wenn man beispielsweise eine wissenschaftliche Aussage macht. Damit gehe das Konzept einher, dass alles Wissen eine soziale Konstruktion sei, es gebe eine soziale Gebundenheit von Wissen. Es ist eine Kritik an der Idee, es gebe den von Thomas Nagel propagierten „Blick von nirgendwo“, einen distanziert-neutralen Ort, der nicht einfließt in die Generierung von Wissen – deshalb kein „Ich“ in wissenschaftlichen Texten. Sprenger zeichnet die Begriffsgeschichte nach, die insbesondere von zwei Polen herkomme: Vom marxistischen Begriff des „Standpunktes“, der auch genutzt worden sei – bis zu einem Essay der feministischen Theoretikerin Donna Haraway, „Situated Knowledges“ von 1988. In diesem habe sie, ohne es ins Wort zu heben, den Begriff des Standpunktes mit dem der Situiertheit ersetzt.
Diese Begriffsherkunft ist für den Feminismus und seine Theorien wohl nicht problematisch. Der andere Pol hingegen schon, denn er komme von Heideggers Begriff der „Befindlichkeit“. Nicht im Sinne irrationaler Stimmungen, sondern als sich be-finden an einem Ort. Der Philosoph Hubert Dreyfuss habe Befindlichkeit als „situated“ übersetzt im Zuge seiner Argumentation, Computer könnten niemals intelligent sein, weil sie nicht auf ihre Umgebung reagieren könnten und keine Körper haben, sie nicht „situated“ seien. Einen Begriff eines Nazi-Kollaborateurs zu verwenden ist für eine linke Theoriebildung ein Problem, jedenfalls wenn man die Begriffe eines umstrittenen Autors wie Heidegger nur auf dessen Person zurückführt. „Man kann was anderes mit dem Begriff machen, als Heidegger es gedacht hatte, nur dafür muss man die Begriffsgeschichte kennen“, so Sprenger.
Situiertheit und Identität
Nach viel Theorie schilderte Sprenger einen ganz praktischen situierten Sprechakt, eine spezifische Situation des Situierens: Das Sprechen über die NS-Vergangenheit der Väter und Mütter, wie es in der BRD gemacht wurde, sei ein westdeutscher, nicht-migrantischer Akt des Sprechens gewesen, sogenannte Vergangenheitsbewältigung. Ein wichtiger Akt für die Identität der Personen, wichtig für die Gesellschaft. Jedoch ein Akt, den ein großer Teil der heutigen deutschen Gesellschaft, nicht vollzogen hat. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn dieser Akt der Situiertheit und damit letztlich der Identitätsbildung bei einem signifikanten Teil der heutigen deutschen Gesellschaft fehlt.
Man solle das Sprechen über sich selbst als Erkenntniswerkzeug begreifen, als Subjektivierung in Sprechakten, die auch anders vollzogen werden könne, so Sprenger. Er sprach sich dafür aus, dass man offenlegt, wer man sei – wie in der Autotheorie oder Autoethnografie. Beispielsweise er selbst sei ein weißer, männlicher Professor – von denen in den vergangenen 2000 Jahren so viel Bücher geschrieben wurden, dass es „für die nächsten 2000 Jahre wahrscheinlich reichen würde“. Doch trotzdem habe er ein Interesse daran gehabt, dieses Buch zu schreiben. Man müsse sich zudem klar machen, dass die Transparenz immer grenzen habe, niemand sei eine Transparenzmaschine. Man müsse „mit der Ambivalenz der Situiertheit umgehen“. Es sei ein nicht vollständig auflösbares Problem, wie der Poststrukturalismus zeige, mit dem der Feminismus ein ambivalentes Verhältnis habe. „Alle Phantasmen der Einheit, der Unmittelbarkeit, des Identitären, der Transparenz, gehen auf eine originäre Differenz zurück. Dem geht Vermittlung voraus.“ Überhaupt, die Frage der Situiertheit ins Verhältnis zum Denken des Philosophen Jacques Derrida zu setzen, zu seinem Diktum „die Unmittelbarkeit ist abgeleitet“, sei ein eigenes Buch wert. Darauf habe er hier nicht mehr detailliert eingehen können.
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