Der Engel ist nur ein unsichtbarer Beobachter der Welt. In Wim Wenders „Der Himmel über Berlin“ mischt sich dieser von Bruno Ganz gespielte Engel unter die Sterblichen und erfährt, welche Dinge ihr Leben ausmacht, als er an einer Frittenbude auf Peter Falk trifft. Der Filmstar kann den Engel nicht sehen, aber er erklärt ihm: „I feel good to smoke, to have coffee and if you do it together, it's fantastic!“
Fantastisch. Hier mal eine Kippe rauchen, da mal einen Kaffee schlürfen. Das Ganze hat jedoch eine Krux: Egal, ob nun im Online-Store etwas bestellt oder im Supermarkt der Einkaufswagen gefüllt wird, es geschieht alles nebenbei, fast unbewusst und doch selbstverständlich. Der Germanist Heinz Drügh bezeichnet diese Konsumwelt als „Convenience“, was zu deutsch Bequemlichkeit oder Wohlstand bedeutet. Dafür steht insbesondere das sogenannte „Convenience Food“, industriell hergestelltes Futter, das keiner Zubereitung bedarf und vor dem Fernseher verschlungen wird – oft alleine, statt in geselliger Runde.
Der Begriff der „convenience“ beschreibt allerdings nicht nur den Gegenstand eines schnellen wie einfachen Konsums, wie Drügh erklärt: „Das bedeutet zunächst mal einen Zustand, in dem sich ein Subjekt befindet“. Kurz: Die Möglichkeit, jederzeit Waren zu erblicken und zu erwerben, wird als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen. „Wir leben in einer Überflussgesellschaft“, sagt Drügh. „Konsum erfolgt heute auf eine unglamouröse Weise.“ Das betreffe nicht nur Luxusprodukte, sondern vor allem einstige Kolonialkonsumgüter wie Kaffee, der heute in Discountern oder Starbucks gekauft wird.
Vieler Hersteller werfen daher stets neue Produkte auf den Markt, die teilweise absurd anmuten. So wie der „Schoko-Kirsch-Brownie-Tee“, mit dem Meßmer lockt: Entspannung und Entschleunigung werden in der Werbung garantiert, die Drügh bei seinem Vortrag an die Wand projiziert. Nebenbei suggeriert dieses Heißgetränk eben den Geschmack von Schokokirschbrownies – ohne wirklichen Verzehr und kalorienarm. Doch warum soll so ein Heißgetränk „kleine Gefühle“ freisetzen, wie es Drügh eingangs als Charakteristikum dieser „Convenience“-Konsumwelt behauptet? Und warum soll daran ein ästhetisches Phänomen geknüpft sein? Um das zu erläutern, zitiert Drügh Immanuel Kant, der in seiner „Kritik der Urteilskraft“ zwischen dem Angenehmen und Schönen unterscheidet: „Was das Interesse der Neigung beim Angenehmen betrifft, so sagt jedermann: Hunger ist der beste Koch, und Leuten von gesundem Appetit schmeckt alles, was nur eßbar ist; mithin beweist ein solches Wohlgefallen keine Wahl nach Geschmack. Nur wenn das Bedürfnis befriedigt ist, kann man unterscheiden, wer unter wie vielen Geschmack habe oder nicht.“
Erst die Überflussgesellschaft markiert damit einen Spielraum, der ästhetisches Potential berührt. „Wir sind hier im Bereich des Convenienten“, kommentiert der Professor für Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts sowie Ästhetik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sichtbar werde das für den Literaturwissenschaftler am Beispiel von zwei Gegenwartsromanen, „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ von Ottessa Moshfegh und „Convenience Store Woman“ von Sayaka Murata. Vor allem der Erfolgsroman der japanischen Autorin Murata gebe dem Problemkomplex einen Spielraum: die ständig verfügbaren und zu konsumierenden Güter werden durchwälzt und zugleich die subjektive Gefühlswelt reflektiert. „Ein poetisches Ende, eine Ästhetik des Convenienten“, sagt Drügh über diesen Roman. Denn er macht sichtbar, was wir für selbstverständlich erachten, wenn wir in Stores stöbern oder den Einkaufswagen füllen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Fotograf Sebastião Salgado – der falsche Friedenspreisträger? Spannende Diskussion in Essen
Fotograf Sebastião Salgados Werk diskutiert in Essen – Kunst 11/19
Where’s the problem?
Vortrag mit Diskussion „Europa nach der Migrationskrise?“ am 20.6. im KWI Essen – Spezial 06/18
Popcorn, Positivismus, Patriarchat
Filmstudio Glückauf und KWI Essen luden am 12.12. ein zur Diskussion über WissenschaftlerInnen im Film – Foyer 12/17
Boomerang Flüchtlingskrise
Politologin Gesine Schwan spricht im KWI Essen über die europaweite Verteilung von Flüchtlingen – Spezial 11/17
„Kaum jemand kann vom Schreiben leben“
Iuditha Balint vom Fritz-Hüser-Institut über die Literatur der Arbeitswelt – Über Tage 10/23
Irrweg deutscher Migrationspolitik
„Blackbox Abschiebung“ in Düsseldorf – Spezial 09/23
„Es hat mich umgehauen, so etwas Exotisches im Ruhrgebiet zu sehen“
Fotograf Henning Christoph über Erfahrungen, die seine Arbeit geprägt haben – Über Tage 09/23
Diskursive Fronten überwinden
„Produktives Streiten“ in Mülheim – Spezial 08/23
Erinnern heißt Widerstand
Sommerfest des Fritz Bauer Forums in Bochum – spezial 08/23
„Man könnte es Stadtpsychologie nennen“
Alexander Estis ist für sechs Monate Stadtschreiber von Dortmund – Über Tage 08/23
Metaphern, Mechaniken, Meisterschaften
Offener Tag im Flipperverein Freeplay.ruhr in Herten – Spezial 07/23
Spaß an der Transformation
Gutes Klima Festival in Essen – Festival 07/23
Abschottung gegen Schutzsuchende
Vortrag über die Fluchtsituation auf der Balkanroute in Duisburg – Spezial 06/23
Ich glaub‘, mein Sein pfeift
Vortrag über Mensch-Tier-Beziehung in Dortmund – Spezial 06/23
„Für Start-ups sind die Chancen in Essen größer als in Berlin“
Unternehmer Reinhard Wiesemann über wirtschaftliche Chancen im Ruhrgebiet – Über Tage 06/23
Schwarze deutsche Feministinnen
Tiffany Florvil liest in Dortmund – Spezial 05/23
Wie Gefängnisse Kriminalität fördern
Rechtsanwalt Thomas Galli sprach in Bochum über Strafvollzug
„Radikale Therapien für die Innenstädte“
Christa Reicher über die mögliche Zukunft des Ruhrgebiets – Über Tage 05/23
Verbrechensbekämpfung umdenken
Diskussion im Nordpol Dortmund – Spezial 04/23
Wasserängste
Vortrag in der VHS Essen – Spezial 04/23
„Das Ruhrgebiet wird nie eine Einheit werden“
Isolde Parussel über Hoesch und den Strukturwandel – Über Tage 04/23
Dokumentation rechten Terrors
„Der Halle-Prozess“ in Bochum – Spezial 03/23
Keinen Schlussstrich ziehen
Erinnerung an die Opfer des NSU in Dortmund – Spezial 03/23
Zwischen Widerstand und Well-being
Feministischer Thementag am Schauspiel Dortmund – Gesellschaft 03/23
„Gemessen am Osten verlief der Strukturwandel hier sanft“
Ingo Schulze über seine Erfahrungen als Metropolenschreiber Ruhr – Über Tage 02/23