Vom Kruppschen Hochofen in den Krieg und dann auf die Gedenktafel. So einfach ließe sich die Ausstellung „1914 – Mitten in Europa“ beschreiben, wenn da nicht auch diese geballte Masse von 2500 Objekten zu sehen wäre. Also rein in die Mischanlage auf der Kokerei Zollverein. Vom Wiegeturm geht’s hoch über den Parkplatz, 150 Meter weit am Stahlseil in die vierte Etage. Den Wolken nah noch übers Dach, als hätte es keinen Strukturwandel gegeben, rauchen am Horizont die Schornsteine, nur der nah gekommene Wald irritiert den Blick übers Revier. Durch die Stahltür geht es in die Ausstellung. Erster Eindruck eine Werbung für den „Vorwärts“ für 1 Mark 10, inklusive martialischem Bergmann mit freiem Oberkörper.Gleich daneben Hugo Höppeners Lebensreform-„Lichtgebet“ von 1894 und zu der gleichen Zeit, in der Marsianer („Krieg der Welten“, 1898) zu Dystopien anregten, malte Ludwig Meidner eine apokalyptische Zukunft, wie sie dummerweise dann auch Realität wurde.
Hinunter geht es in den „Aufbruch in die Moderne“. An Rhein und Ruhr am Vorabend des ersten Weltkriegs. Die Verteilerebene im 3. OG ist schon selbst ein Zeugnis dieses Aufbruchs und schnell wird klar, welche Macht diese Industrieregion zu dieser Zeit verbarg. Konzerne, Kartelle, die riesigen Fabrikanlagen und immer noch herrschte der Kaiser in Deutschland, obwohl das Elektromobil „Runabout“ (1903) längst erfunden war. Die Kapitäne sorgten für ihre Arbeiter, die sich zwar Karl Ernst Osthaus` Tafelbesteck nicht leisten konnten, aber von der Gartenstadt-Bewegung profitierten. Dass es den Staublungen nicht half wissen wir, dennoch war es auch eine knallharte, innovative Zeit, missverständlich genannt Belle Époque. Man handelte längst global (!) schuf Netzwerke und die Schnellfotografie, aber auch Schreib- und Rechenmaschinen und natürlich allerlei Kriegsgerät. Was daraus werden sollte ist im Mischtrichter der Kokerei allgegenwärtig: Originalaufnahmen von Gemetzel in den Stellungen, aber man muss ja nicht reinschauen. Der im Kaiserreich beliebte „Kieler Matrosen Anzug“ für die Jüngsten ist da viel netter, während die älteren wahrscheinlich lieber nach Köln zur Fa. Allright blickten, die dort Fahrräder, aber auch das ausgestellte 680er Zweizylinder Motorrad von 1910 produzierten.
Aber schon bald wehte die Reichskriegsflagge neben der Fahne des Deutschen Kaiserreichs. „Gott mit uns“, diese Losung hat man gründlich missverstanden. Die Flotte wollte schließlich produziert sein, die Gasmasken und der Rest der Kriegsausrüstung auch. Sehr degeneriert passt dazu in Essen das großformatige Ölgemälde „Giftgas-Versuch zur Erprobung von Gasmasken auf der Wahner Heide in Köln“ (um 1915), das (wer auch sonst?) die Bayer AG bei Otto Bollhagen in Auftrag gab.
Dann ging das Schlachten los. Die schwere Feldhaubitze M1913 von 1918 steht quasi auf einem Sockel, dahinter flimmern wieder die grässlichen Schwarzweiß-Bilder. Nach der Fronterfahrung half auch die Propaganda nichts mehr. Was blieb sind zersägte Denkmäler aus Bochum und die Gedenktafeln des Bildhauers Joseph Enseling für die 2841 Werksangehörigen der Gussstahlfabrik Friedrich Krupp (1926). Doch der nächste Demagoge streckte schon seine Finger nach dem Rest der Belegschaft aus.
„1914 – Mitten in Europa“ | bis 26.10. | Mischanlage der Kokerei Zollverein, Essen | 0201 24 68 14 44
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Denkinseln im Salzlager
Osteuropäische Utopien in Essen – Ruhrkunst 08/24
Digital natürlich
New Now Festival auf Kokerei Zollverein – Ruhrkunst 07/23
Blicke hinter die Abwasserrinne
„Beyond Emscher“ in der Kokerei Zollverein in Essen – Kunstwandel 11/22
Blicke hinter die Abwasserrinne
„Beyond Emscher“ in der Kokerei Zollverein – Kunstwandel 09/22
Nie wieder
Martin Schoellers „Survivors“ in der Essener Kokerei Zollverein – Kunstwandel 03/20
Zollverein, hier dreht sich alles um Kohle
Der Weg des Geldes: auf der Suche nach 1,4 Millionen Besuchern – Nachgefragt 12/18
Drei Tage Love and Peace
Essen bebt. Der NRW-Tag 2018 – das Besondere 08/18
Tanz und Reflexion
PACT Zollverein beherbergt die Tanzplattform 2018 – Tanz an der Ruhr 03/18
Der Raum und seine Verknappung
Wohnungsbau-Ausstellung auf Zollverein – das Besondere 02/18
Dokumente aus der Steinstaubzeit
Josef Stoffels und die Zechen im Ruhr Museum – Ruhrkunst 02/18
Ohne Anfang oder Ende
„Design im Zeichen des Kreises“ auf Zollverein – Ruhrkunst 02/17
Vor der Schüppe das Spotlight
„Rock und Pop im Pott“ auf Zollverein – Ruhrkunst 08/16
Bewegung und Berührung
Eva Aeppli und Jean Tinguely in Duisburg – Ruhrkunst 05/25
Einflüsse verschmelzen
Nadira Husain im Kunstmuseum Gelsenkirchen – Ruhrkunst 05/25
„Der Zweifel ist wach zu halten“
Direktor Nico Anklam über die Ausstellung der Ruhrfestspiele 2025 in der Kunsthalle Recklinghausen – Sammlung 05/25
Muster im Dunkeln
„Holding Pattern“ im Dortmunder U – Ruhrkunst 04/25
Notfalls gepunktet
Gritli Faulhaber in Essen – Ruhrkunst 04/25
Der Mensch in prekären Zeiten
„We“ im Kunstmuseum Mülheim – kunst & gut 04/25
„Was Handwerk und was Kunst ist“
Co-Kurator Markus Heinzelmann über „Das halbe Leben“ im Bochumer Museum unter Tage – Sammlung 04/25
Nudel, Mops und Knollennase
Loriot in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen – Ruhrkunst 03/25
Hannibal, ungeschönt
Latefa Wiersch im Dortmunder Kunstverein – Ruhrkunst 03/25
„Alle Intelligenz ist künstlich“
Co-Kurator Tom McCarthy über die Ausstellung „Holding Pattern“ im Dortmunder HMKV – Sammlung 03/25
Einzelkämpfer auf ungesichertem Terrain
Herbert Zangs im Emil Schumacher Museum in Hagen – kunst & gut 03/25
Facetten einer Legende
Siegfried Anzinger im Museum Küppersmühle in Duisburg – kunst & gut 02/25
Gewebt, geknüpft, umwickelt
Sheila Hicks in Bottrop – Ruhrkunst 02/25