Zugegeben, man erschrickt mitunter: vor leeren Augenhöhlen lebensgroßer Stoffpuppen, grell aufleuchtenden Tierschädeln mit klapperndem Gebiss, malträtierten Stofftieren, Federwischen auf Bohrmaschinen, die mit irrem Getöse rotieren, wenn man den Fußschalter betätigt. Der Rundgang durch die Doppel-Retrospektive zum 100. Geburtstag von Eva Aeppli (1925–2015) und Yves Tinguely (1925–1991) ist ein emotionales Wechselbad, anrührend, doch auch latent unbehaglich. Absurde brachiale Apparaturen treffen auf zarte menschliche Verletzlichkeit. Indem das Lehmbruck Museum beide Positionen weltweit erstmals gleichrangig nebeneinanderstellt, inszeniert es einen beeindruckenden Dialog zwischen zwei eigenwilligen, völlig unterschiedlich denkenden und arbeitenden Künstlerpersönlichkeiten. Rund 90 Werke aus allen Schaffensphasen der beiden Schweizer werden angereichert durch biografische Begleitinfos und Einblicke in private Arbeitshefte.
Aeppli und Tinguely lernten sich in den 1940ern an der Baseler Kunstgewerbeschule kennen, heirateten, zogen in die Kunstmetropole Paris und blieben auch nach ihrer Trennung 1960 zeitlebens eng befreundet: Tinguely, weltberühmt für seine schwarzhumorigen Maschinenobjekte aus Fundstücken, die unter grausigem Gequietsche, Gerappel und Lichteffekten z. B. Gartenzwerge drehen oder leere Glasflaschen zertrümmern und damit die damalige Technikbegeisterung karikieren. Und Aeppli, die fernab vom Kunstbetrieb wirkte und nähte. In Tinguelys letzten Lebensjahren 1990/91 schufen sie einige Gemeinschaftswerke.
Die werden, chronologisch stimmig, im letzten, zentralen Ausstellungsraum präsentiert. Dennoch empfiehlt es sich, den Parcours in diesem lebhaften „Gruselkabinett“ zu beginnen, bevor man sich den Werdegang beider im Galerieumgang erschließt. Tinguely startete in den 1950ern durch mit kinetischen Bildobjekten, Mobiles und seiner erste Malmaschine, während Aeppli fratzenhafte Gestalten in Kohle zeichnete und erst handliche, später melancholische Menschenpuppen mit bodenlangen leeren Samtgewändern nähte und Totentanzbilder malte. Der Tod ist immer nah. Ebenso die leise Beklemmung, wenn am Ende Tinguelys motorgetriebenen Apparaturen Aepplis zarte Stoffwesen herumschleudern. Der Mensch und die Maschinen – eine emotionale Allianz. Und fortlaufend aktuell.
Mechanik und Menschlichkeit | bis 24.8. | Lehmbruck Museum, Duisburg | 0203 283 32 94
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