Nathanaels Leben ist ein Horrortrip. Dem jungen Studenten im roten Anzug stehen permanent die feurig glühenden Haare zu Berge. Ein Mann unter Strom. Sein ständiges Kichern und Keckern und die weit aufgerissenen Augen zeigen einen Mann am Rande des Wahnsinns. Gleich zu Beginn steht der fulminante Christian Friedel als „man on a razorblade“ irr-feixend auf einem Gerüst, während im Hintergrund der Auslöser des Schreckens, der düstere Coppelius/Coppola des Andreas Grothgar zwei Augen an Fäden vor sich herträgt. Pfeile, Flammen und Sterne blitzen auf.
Während der ein oder andere Klassiker von Goethe bis Büchner doch allzu geschmäcklerisch geriet, fand Robert Wilson auf dem Spielfeld der schwarzen Romantik immer sein Glück. Am durchschlagendsten bei der „Freischütz“-Adaption „Black Rider“ die mit William Burroughs und Tom Waits entstand. Alte Rezepte lassen sich aufkochen, also nimmt sich der 75-jährige Altmeister jetzt E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen (Koproduktion: Düsseldorfer Schauspielhaus) vor und macht daraus wieder ein Rockmusical, das erstaunlich gut funktioniert. Wer denkt, die Geschichte um die Liebe des Studenten Nathanael zur Gliederpuppe Olimpia könnte in Wilsons hochkünstlicher und a-psychologischer Ästhetik versanden, sieht sich eines Besseren belehrt. Die Romantiker fürchteten die Mechanisierung der Welt (Eichendorff: „die Welt ist wie ein mechanisches, von selbst fortlaufendes Uhrwerk“) und genau so erscheint sie auch in Wilson Ästhetik. Streng abgezirkelt und choreografisch durchexerziert.
Erzählt wird die Geschichte einer kindlichen Traumatisierung. Nathanaels Mutter erzählt dem Schlaflosen die Geschichte vom Sandmann, der den Kindern nachts die Augen ausreißt. Sie verquickt sich mit einem geheimnisvollen Besucher in der elterlichen Wohnung und dem Tod des Vaters. Als Student glaubt Nathanael dann den Unbekannten in dem Händler Coppola wiederzuerkennen, der ihm eine Brille verkauft, mit der er die vermeintliche Schönheit der Gliederpuppe Olimpias erst wirklich erkennt. Wilson dreht die Geschichte zugleich von Beginn an ins Skurrile und Ironische. Da liegt Rosa Enskat als Mutter im Liegestuhl in einer Garten-Kulissenbühne und telefoniert, die Figuren hängen immer wieder in sprachlichen Loops fest, ihnen entfahren Schreie. Comic und Slapstick sind nie weit, gelegentlich meint man sogar eine Spur Selbstironie hinsichtlich Wilsons eigener Ästhetik zu erkennen. Musikalisch bleibt „Der Sandmann“ hinter „The Black Rider“ zurück. Singer-Songwriterin Anna Calvi gelingt zwar der ein oder andere Ohrwurm („Dream On“), doch so recht überspringen will der Funke nicht. Nathanaels angebetete Gliederpuppen-Frau Olimpia erweist sich schließlich als einfache Spieldosenfigur mit Schlüssel im Rücken. Kein Wunderwerk der Technik. Völlig anders also als die Mechanik des Wilsonschen Theaters, das an diesem Abend perfekt vor sich hinschnurrt.
„Der Sandmann“ | R: Robert Wilson | Sa 3.6. 19.30 Uhr, So 11.6., So 25.6. 18 Uhr | Düsseldorfer Schauspielhaus | 0211 36 99 11
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