Seine Werke enthüllen Gesichter, in die das Leben tiefe Furchen geschlagen hat. Fotograf Ralf Scherer portraitiert Menschen, die sich in der Beiläufigkeit ihrer Handlung zu verlieren scheinen und solche, die den Widrigkeiten der Straße mit einem breiten Lächeln die Zähne zeigen. 38 Schwarz-Weiß-Fotografien gehören zur Ausstellung „Fokus Mensch“. Die großformatigen Fotos sind von großen Acryglasplatten eingefasst und reihen sich ungerahmt nebeneinander. Auf einem schreitet ein Mensch in einem Froschkostüm entschlossenen Schrittes einen Bürgersteig entlang. Keiner der Passanten scheint von seinem ungewohnten Äußeren Notiz zu nehmen. Ein Bild weiter küsst sich ein Pärchen auf dem Bahnsteig. Sie blickt scheinbar gelangweilt durch ihre halb geöffneten Augenlieder, er scheint sich derweil völlig im Moment zu verlieren.
Die meisten Bilder entstehen im Urlaub. „Meine Familie ist wirklich tolerant“, sagt Scherer. Wenn seine Frau mit der Tochter shoppen geht, zieht Scherer stundenlang durch die Straßen fremder Städte. „Ich mache mir dann Musik auf die Ohren und lasse mich einfach treiben.“ Und wenn er zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, findet er neue Geschichten. Obwohl sich die Blende seiner Kamera nur für den Bruchteil einer Sekunde öffnet, fängt Scherers Kamera ganze Leben ein.
In Avion begegnete er einem jungen Mann, der in Gedanken versunken neben seinem Motorroller auf einem Stromkasten saß. Den Zeigefinger legte er in einer eleganten Denkerpose ans Kinn. „Ich war dabei, als seine Tolle runter fiel“, erklärt Scherer und erzählt von dem Moment, in dem sich der Schopf des jungen Mannes aus der Starre seiner gebändigten Frisur befreite und ihm eine gewellte Strähnen verwegen in die Stirn fiel. „Vielleicht hatte er Liebeskummer, vielleicht war auch sein Roller kaputt“, sagt Scherer. „Er war so in Gedanken, dass er mich einfach nicht entdeckt hat.“
Scherer spielte danach nur noch etwas mit dem Bildausschnitt, damit sein Modell im Zentrum steht. Von Nachbearbeitung und einer allzu teuren Ausrüstung hält Scherer nicht viel. „Technik wird völlig überbewertet“, erklärt er. Das Bild, das in den sozialen Medien für die größte Begeisterung sorgte, hat Scherer mit einem Handy aufgenommen.
Seine Bilder entstehen oft aus dem Moment: „Natürlich versuche ich keinen Pixel zu verschwenden, deshalb gehe ich so nah ran wie möglich“, sagt Scherer. Aber nur so nah, um den Moment nicht zu stören. Erst nachdem er das Bild auf seine Speicherkarte gebannt hat, kommt er mit den Hauptdarstellern seiner Geschichten ins Gespräch. Eine seiner Lieblingsgeschichten erzählt ein Foto, das Scherer „Natti“ genannt hat. „Natti ist ein Inder, den ich in Rotterdam getroffen habe“, sagt Scherer. Von Natti sind nur seine Shorts, sein darüber ragender haariger Bauch und sein linker Arm zu sehen. Der erste Blick des Betrachters fällt auf Nattis Armband, das ein kleines Holztäfelchen mit einem Friedenszeichen ziert. Wer genauer hinsieht, entdeckt auch eine in seine Haut gestochene Swastika – in Indien ein Zeichen für Glück, das in Deutschland unglückliche Assoziationen weckt. „Er hatte ganz fusselige, graue Haare. Ein ganz komischer Typ – genau das, was mich fasziniert“, ergänzt Scherer, was der Betrachter von Natti nicht sehen kann. Auf den Auslöser folgte das Gespräch. Eines, das Scherer berührte. „Seine Offenheit und seine Gedanken über den Frieden, das hat uns beide verbunden.“ Geschichten wie diese machen Scherers Werke aus.
„Fokus Mensch“ – Street-Fotografie von Ralf Scherer | 8.10. bis 12.11. mittwochs 19 Uhr bis 21 Uhr | Fotoclub ObjektivArt ’96, Rüsbergstr. 70, 58456 Witten | www.objektivart96.de
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