Die Anmerkung zum Stück hätte auch von Milo Rau selbst sein können. Zumindest Teile davon. Aber der Regisseur bezieht sich in seiner Dankesrede nur auf sie. Darauf, dass die Opfer, um die es im Stück geht, dem Drama nur symbolisch ihre Namen leihen. Auch steht in dieser Anmerkung, dass die Inszenierung nicht der Versuch sei, das Geschehene, die Verhandlung zu rekontextualisieren – obwohl auf der Bühne Zeugen vor Gericht stehen. Diese Anmerkung ist von Peter Weiss, 1965 dem Stück „Die Ermittlung“ vorangestellt, dass die Frankfurter Auschwitz-Prozesse thematisiert.
Dokumentarisches Theater wurde das Format genannt, das Weiss dafür aufgriff und das er ebenso prägte. Es ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, die Rau mit dem Namensgeber jenes Preises hat, mit dem er an diesem Abend feierlich von der Stadt Bochum geehrt wurde.
Da ist das antikapitalistische Weltbild, das beide mit den Mitteln der Kunst den Verhältnissen entgegenhalten: Die Ungeheuerlichkeiten, die Verstrickungen des Kapitals, die Weiss in „Die Ermittlung“ anprangerte oder das Porträt des russischen Revolutionsführers Trotzki, das er für die Bühne verfasste. Und Milo Rau, der im Oktober in der Berliner Schaubühne mit „Lenin“ die letzten Tage des Bolschewiken-Führers inszenierte, der im November ein Weltparlament („General Assembly“) konstituierte, bei dem nie ganz klar war, ob das Politik oder Kunst sei. Genauso wie bei seinem Aufruf zum Sturm auf den Bundestag. Im Namen globaler Solidarität.
Es ist vor allem die ästhetische Herangehensweise, mit der Rau an den linken Dramatiker Weiss anknüpft: Etwa das Dokumentarische, mit dem der Schweizer auf der Bühne und auf der Leinwand die Lügen und Verstrickungen in der globalisierten Welt aufzeigt. Oft als Nachstellungen („Reenactments“) von Gewaltgeschichten – wie etwa der ruandische Völkermord in „Hate Radio“ – inszeniert. Aber es sind keine bloßen Rekontextualisierungen. Wie Raus letzter Dokumentarfilm „Das Kongo Tribunal“ demonstriert, ein fiktiver Prozess gegen die Verantwortlichen von Bürgerkrieg und Ausbeutung im afrikanischen Staat.
Es sind Darstellungen, die die Möglichkeiten des Ausstiegs und der Verweigerung aufzeigen, wie die Autorin Carolin Emcke in ihrer Laudatio betont. Dafür steht auch Milo Raus „Europa-Trilogie“, mit der er dem Erzähltheater neue Impulse setzte.
Der Abschluss der Trilogie, „Empire“, wurde anlässlich der Preisverleihung erstmals im Bochumer Schauspielhaus aufgeführt. Ein Einblick in die Geschichte und Gegenwart Europas. Obwohl wir auf der Bühne nur in eine Küche im syrischen Al-Qamishli und in die Gesichter, die groß auf der Leinwand verdoppelt werden, schauen, den Berichten lauschen, welche die vier Schauspieler aus ihrem Leben erzählen. Über Flucht, Krieg, Trauer, Träume. Die großen Zusammenhänge stecken hier in den kleinen Porträts. Die Utopie in den Hoffnungen. Diese Vision in den kleinen Geschichten mitzuerzählen, das finde Rau sowohl im Früh- als auch im Spätwerk von Peter Weiss, wie er in seiner Dankesrede betont. Nicht ohne ihn zu zitieren:„Die Hoffnungen werden bleiben, die Utopie wird notwendig sein“. Die wohl wichtigste Gemeinsamkeit beider Theatermacher.
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