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Das Grillo in Essen wird 125 Jahre jung
Foto: Bernadette Grimmenstein

Neues Spiel, neues Glück

31. August 2017

Werte-Roulette? Zwei Theaterstarts im Ruhrgebiet – Prolog 09/17

Es gibt Theater, da sind Spielpläne wie der Winterfahrplan der Deutschen Bahn. Die abgegriffene Floskel „Alles kann, nichts muss“ trifft scheinbar auf beide institutionell geförderten Gesellschaftsstrukturen zu – aber eben nur scheinbar. Manchmal durchbrechen die Macher die Strukturen, die einen wollten mal an die Börse, die anderen befragten einfach ihr Publikum. So geschehen in der „Grünen Hauptstadt Europas“, in Essen. 125 Jahre leisten sich die Bürger dort schon ihr Stadttheater, da wollten sie auch mal mitreden und wählten die erste Premiere der Jubiläumssaison. Doch wer nun denkt, Musicals, Schenkelklopfer oder wenigstens Goethe (wie immer) hätten dieses Rennen gewonnen, wird eines Besseren belehrt. Mit weitem Abstand gewann in Essen Dürrenmatts böse Farce „Der Besuch der alten Dame“ und ich klatsche im Geiste Beifall für diese coole Wahl für das Grillo-Theater. Jeder weiß, das finanziell heruntergewirtschaftete Güllen kriegt Besuch einer ultrareichen Tochter der Stadt: Claire Zachanassian rockt den Ort, pfeift auf die Reputation, will Rache gegen Kohle, im Ruhrgebiet hieß das mal Kunst gegen Kohle, sonst könnte die Verortung allerdings passen. Bei aktuell 3,65 Milliarden Euro Schulden könnte ein Roman Abramowitsch Wunder wirken, vielleicht sogar für Rot-Weiss. Wie in Dürrenmatts Schweiz von 1956 geht es uns eigentlich so gut wie nie, doch die Schere zwischen Arm und Reich verzerrt auch heute das Wertesystem. Insofern haben die Essener bei der Aktion „Wünsch dir was!“ (sicher nicht moderiert von Commander Cliff Allister McLane) sehr souverän gewertet. Nicht vergessen: Regie führt Thomas Krupa.

Auch im Bochumer Schauspielhaus dreht sich das ominöse Werte-Roulette. Hier geht’s weniger um Stadtschulden (Bochum hat nur halb so viele wie Essen!), aber auch um das marode Wertesystem. Wer Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer kennt, weiß, dass es bei ihm im Drama „Ein Volksfeind“ nicht so ganz um die Zeit Henrik Ibsens geht, wenn auch die Probleme damals (1882) fatal an die politisch wohlgewollte Volksvergiftung heute erinnern. Und dabei seien nicht nur Fipronil oder Salmonellen, Gammelfleisch oder Glassplitter gemeint, sondern auch geistige Verunreinigung weiter Teile der Bevölkerung. Schmidt-Rahmer hat den Ibsen-Titel durch „Volksverräter!!“ ersetzt. Das Unwort des Jahres 2016 geistert immer noch durch die deutsche Gesellschaft, hat längst die US-amerikanische Regierung erreicht und sorgt hier und da für Aufregung im Wahlkampf 2017. Die Ungeheuerlichkeiten im südnorwegischen Kurort könnten natürlich genauso gut in einem x-beliebigen Kurort in Deutschland stattfinden. Die Mär der „Alternativen Fakten“ bestimmt die Meinung des Volkes. Montagsdemos gegen Zuwanderung, Hass auf irgendwelche Eliten, die lustige Lügenpresse – bei Pegida oder AfD bleibt nichts aus der braunen Vergangenheit ausgespart. Da will ein Spitzenkandidat sogar die türkischstämmige SPD-Politikerin Aydan Özoguz in Anatolien „entsorgen“. Badearzt Dr. Thomas Stockmann hätte es heute nicht leichter.

„Der Besuch der alten Dame“ | R: Thomas Krupa | Fr 29.9.(P), Sa 7., Fr 27.10. 19.30 Uhr, Di 3.10. 19 Uhr | Grillo-Theater Essen | 0201 812 26 00

„Volksverräter!!“ | Do 21.(P), So 24., Sa 30.9., Fr 13.10. 19.30 Uhr | Schauspielhaus  Bochum | 0234 33 35 55

Peter Ortmann

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