Wenn im Juli in Mülheim die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet, dann sind die Weißen Nächte im Raffelbergpark nicht weit. Im Grunde ist es eine Hommage an das Publikum, aber auch eine Verbeugung vor der schieren Grenzenlosigkeit einer Theaterbühne, wenn das Stück stimmt und die Schauspieler echte Schauspieler sind. Selbst das Wetter spielt dann keine große Rolle mehr, hoffen wir das zwischen dem 9. und 13. Juli das Klima mild, der Regen fern und die Fußball-Hysterie zuhause bleiben mag. Dann gönne man sich einen oder mehrere kostenlose Seelenmassagen des Theaters an der Ruhr. Lausche dem musikalischen Woyzeck, höre zu beim bösen Kaspar oder grinse bei einem abgedrehten Gott. Dabei ist Roberto Ciullis „Woyzeck“ zum ersten Mal unter freiem Himmel zu sehen. Da sitzt ein ganzes Blas- und Streichorchester auf der Bühne und untermalt die Handlung über eine Gesellschaft, in der kaum etwas möglich war, die aber eben jenen Woyzeck am 27. August 1824 wegen Mordes hinrichtete. Weil er aber geistige Anomalien aufwies, wurdeposthumein Gutachten erstellt. In diesem beurteilt ein Dr. Clarus Woyzeck als moralisch verkommen, keineswegs aber als verwirrt. Zwölf Jahre später greift Georg Büchner diesen Fall auf und seziert das Verhalten dieses Bürgertums mikroskopisch und entdeckt mit Schrecken die Groteske dieser Welt.
Ebenso grotesk wie hintergründig ist Woody Allens Stück „Gott“, in dem sich ein Autor und ein Schauspieler ungefähr 500 Jahre v. Chr. über den Ausgang eines Stücks streiten, das sie beim Athener Dramen-Festival aufführen möchten.Da sie jedoch nur in einem anderen Stück spielen, in dem von Woody Allen, begeben sie sich bald in einen Dialog mit dem Publikum, das sich auch als erfunden erweist. Fiktion und Wirklichkeit sind derart miteinander vermittelt, dass beide in ihrem Anspruch, Kunst beziehungsweise Realität zu sein, bestritten werden. Die Lösung ist nur noch technisch möglich: ein Erfinder bietet dem Autor, welchem auch immer, eine Schlussmaschine an, mit der Zeus stets am Ausgang der Stücke einfliegt. Da jedoch die Maschine, die auf dem Höhepunkt des Dramas eingesetzt wird, versagt, stranguliert sich der einschwebende Zeus – Gott ist tot.
Neben den Inszenierungen des Theater an der Ruhr unter freiem Himmel wird auch 2014 bei den Weißen Nächten ein musikalisches Rahmenprogramm geboten – jeweils vor den Theateraufführungen. Zu erleben sind dann neben dem Cologne World Jazz Ensemble auch UWAGA!, ein Quartett aus einem klassischen Violinist mit Vorliebe für osteuropäische Gipsy-Musik, einem Jazzgeiger mit Punkrock-Erfahrung, einem Akkordeonist mit Balkan-Sound im Blut und einem Bassist, der sich in Sinfonieorchestern ebenso zu Hause fühlt wie in Jazzcombos. Die Dritten im Bunde sind Cats n Fruits mit Katy Sedna und dem Geiger Martin Weber. Sie singt in den Sprachen der Länder, in denen sie gelebt hat. Er greift in seinen Arrangements zu Geige, Akkordeon, Bass, Percussion, Mini-Piano und elektronischen Loops. Gemeinsam schütteln die beiden togoische Lieder, portugiesische Fados und indische Ragas durch.
Weiße Nächte | 9.7.-13.7. | Theater an der Ruhr, Mülheim | Eintritt frei
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