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Performer: Fabian Sattler (li.), Moritz Fleiter (re.)
Foto: André Symann

Auferstehung im Konfettiregen

12. April 2016

„We have to laugh before midnight“ im Maschinenhaus Essen – Theater Ruhr 04/16

Als das Publikum den Bühnenraum des Maschinenhauses TOBOSO in Essen betritt, sitzen bereits zwei junge Männer an einem Tisch gegenüber. Die beiden Performer tragen die gleiche Kleidung, lächeln sich an, reagieren aufeinander, als wären sie sich gegenseitig ein Spiegelbild. Zwei Stühle an ihrem Tisch sind noch frei. An zwei Mikrofonständern hängen jeweils eine Perücke und ein Partyhütchen. Eine Wand aus Pappkartons grenzt den Bühnenraum nach hinten ab.

Der Abend beginnt, womit alles Leben beginnt: mit einer Geburt. Fabian Sattler, einer der beiden Performer, wickelt sich dafür in eine Goldfolie. Der zweite, Moritz Fleiter, saugt mit einem Staubsauger alle Luft zwischen Körper und Folie heraus. Nach wenigen Augenblicken klebt die Folie wie eine zweite Haut an dem in Embryonalstellung am Boden liegenden Sattler. Obwohl sein Körper durch die Folie verdeckt wird, ist er besonders sichtbar, alle Hebungen, Wölbungen und Umrisse sind messerscharf zu sehen.

Wie eine Schlange häutet er sich und begrüßt das Publikum besonders herzlich. Er wird nicht müde zu betonen, wie schön es sei, dass es den Weg ins Maschinenhaus gefunden habe, schließlich „Könnten Sie auch ganz woanders sein.“ Ja, wir könnten uns für diesen Abend sicher anders entschieden haben. Säße dann stattdessen jemand anderes auf unserem Platz? Oder wäre der Platz leer? Mit dieser Begrüßung wird in das Thema des Abends eingeführt: Womit verbringen wir unsere Zeit in diesem Leben – diese Zeit, von der wir nicht wissen können, wie knapp sie bemessen ist? Wofür entscheiden wir uns in jedem einzelnen Moment? Was definiert uns? Wäre ein Performer ohne Publikum überhaupt ein Performer? 

Midnight. Das Ende eines jeden einzelnen Tages. Egal was wir tun, der Nullpunkt 00:00 Uhr wird kommen. So wie am Ende eines jeden Lebens der Tod steht, unausweichlich. Alle wissen das und alle gehen anders damit um. Kaum jemand denkt ständig daran, der Gedanke wäre zu lähmend. Alles würde sinnlos erscheinen. Vielleicht ist es das auch? 

„We have to laugh before midnight”. We have to laugh before 00:00 Uhr. Wir müssen ein Feuerwerk abfeuern, bevor es zu Ende ist. Dieses Leben, dieser Tag, diese Vorstellung. Oder auch: Wir müssen lachen, bevor die immergleiche Routine am nächsten Tag um 00:01 Uhr wieder von vorn beginnt. Und genau so ein Feuerwerk fackelten die beiden Performer ab in ihrer bunten, wilden und zugleich nachdenklichen Physical Theatre Perfomance. 

Fleiter und Sattler agieren über weite Strecken völlig synchron, jeweils als Spiegelbild des anderen. Unergründlich, wer die Vorgabe macht, und wer nachzieht? Was ist Aktion, was Reaktion? Allgemeiner gefragt: Auf welcher Grundlage treffen wir täglich all die vielen kleinen und großen Entscheidungen, die unseren Tag bestimmen, bis wieder Mitternacht wird? Sind wir frei oder determiniert?

In knapp 90 Minuten werden uns die Entscheidungen vorgeführt, die die beiden im Probenprozess zusammen mit ihrer Dramaturgin Charlotte Kath und ihrer Bühnen- und Kostümbildnerin Sandra Becker (großartig!) getroffen haben. Entscheidungen, wie sie hundertmal am Tag getroffen werden müssen, Bewegungen, tausendfach ausgeführt: Teller hinstellen. Tassen hinstellen. Umstellen. Prüfen. Hinsetzen. Umsetzen. Aufstehen. Becher heben. Trinken. Becher absetzen. Fleiter und Sattler nutzen die Zeit auch, um Unsinn anzustellen, etwa wenn sie sich plötzlich als Cäsar oder Großmutter verkleiden. Oder einen luftgefüllten Fat-Suit aus den Kulissen ziehen, in dem sie sich kaum bewegen können (zum großen Vergnügen des Publikums). Oder sich mit Hilfe von Strumpfhosen und Ballons in eine Echse verwandeln.

In einer wilden Konfettischlacht spielen die beiden schließlich abwechselnd verschiedenste Todesarten nach. Das Konfetti fungiert darin wie ein Katalysator der Auferstehung: Mit Konfetti beschmissen atmen sie wieder, machen weiter. Doch ab einem bestimmten Punkt hilft auch kein Konfetti mehr, der Tod setzt sich durch: Der Fat-Suit liegt als leere Hülle auf der Bühne, beerdigt, für sich genommen kein bisschen lustig. Nur mit einem Menschen darin, der ihn zum Leben erweckt, macht dieser zerknitterte Gegenstand Sinn. So wie ein Körper zum Leben ein Hirn und eine Seele braucht. Am Anfang die Geburt, am Ende des Abends die Beerdigung? Nicht ganz. 

Das letzte Bild zeigt Fleiter und Sattler wieder an einem gedeckten Tisch. Nicht dem vom Anfang, denn der ist inzwischen nicht mehr zu benutzen. Aber es muss ja weitergehen, die Routinen wollen fortgesetzt werden. Das Ende ist der Anfang. Also schnappen sich die beiden einige Kisten und decken den daraus gebauten Tisch, so gut es geht. Die beiden sitzen sich erneut einander spiegelnd gegenüber, wie am Anfang. Lächeln sich zu und sagen „Schön, dass du hier bist.“ Denn der Andere könnte ja auch ganz woanders sein. 

Lisa Kerlin

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